Vielleicht bin ich in ein paar Jahren froh, denke ich beim Packen, wenn ich ebenerdig und in einer kleineren, kostengünstigen Wohnung lebe - das Stiegensteigen fällt mir von Jahr zu Jahr schwerer. Hinter dieser griffigen Behauptung verberge ich meine wahren Ängste vor Armut, Alter und Krankheit. Die letzte Vorsorgeuntersuchung hatte bedrückend geendet; die Mammographie mußte wiederholt werden, um Gewißheit zu bekommen. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie es nach der Operation sein würde.
Ich sitze auf dem Boden der fast leeren Wohnung, massiere meine schmerzenden Knie und trinke ab und zu ein Schlückchen kalten Tee im schrägen, kühlen Licht der Oktobersonne, während ich meine Kartons betrachte. Gewissenhaft und bedächtig habe ich alles verpackt; der Schreibtisch, die Bücherregale, die Kästen sind fast alle leer. Mein Gott, was hat sich alles mit den Jahren angesammelt! Bei jedem Erinnerungsstück, bei jedem Zettelchen, bei jedem Brief oder Ansichtskarte fliegen Gedankenfetzen durch meinen Kopf, erinnern mich an diesen oder jenen Ausflug, an manche schöne Reise oder an Freunde und Liebhaber aus fern vergangener Zeit.
Unbewußt habe ich mich von der Gegenwart Schicht für Schicht in die Vergangenheit vorgearbeitet. Ganz, ganz unten - die blonden Zöpfe, die ich mit 16 abschneiden ließ, und meine alten Tagebuchhefte. Mit einer gewissen unerklärlichen Scheu nehme ich die alten, abgegriffenen Hefte in die Hand, blättere kurz darin, bevor ich sie weglege. Langsam, unaufhaltsam und eindringlich vollzieht sich die Wiederauferstehung der Vergangenheit, langsam formen sich Bilder aus einer Zeit, die schon ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Der Krieg, gegen dessen Ende ich geboren wurde. Die Jugend, die ich in dem kleinen Kaff in den Voralpen verbrachte. Die Freundinnen und Spielkameraden, unsere Abenteuer und die heimlichen Spiele. Mein Vater, mein über alles geliebter Vater, und meine Mutter. Die tapferste Mutter dieser Welt.
Und - die Katastrophe.
Ich bin seltsam verwirrt, bin bei meiner Arbeit in der Bibliothek unkonzentriert, gehe wochenlang den alten Tagebuchheften aus dem Weg und schiebe die drängenden Gedanken immer wieder zur Seite. Ich habe schon genug geschrieben, es ist auch schon alles einmal geschrieben worden; dennoch: meine Geschichte, meine ureigene Geschichte, ist noch nicht geschrieben. Nicht diese Geschichte.
Ein Spaziergang mit meinem Vater am Ufer des Chiemsees. Damals, nach dem Ende des furchtbaren Krieges, war die lange Busfahrt zum Chiemsee sicher ein großer Luxus, aber mein Vater wollte den Sonntag mit mir verbringen - so dachte ich damals, nicht ahnend, daß diese wunderschönen Sonntage in Wirklichkeit Besuchstage nach dem Ende ihrer Beziehung waren. Ich jedenfalls lief, hüpfte und tändelte im Sonnenschein auf dem Uferweg neben meinem Vater einher und fragte ihm (vermutlich) Löcher in den Bauch, wie es Kinder eben tun.
Mein Vater schmunzelt und kratzt sich am Hinterkopf. So ungefähr ist das, sagt er, so ungefähr, aber eigentlich macht die Tante nur einen Scherz. Die Kinder bekommen Papa und Mama, die bringt nicht der Storch. Doch, beharre ich eigensinnig, sie hat's gesagt! Er lacht und sagt, daß das eben die alten Kindermärchen sind, aber wenn du größer bist, wirst du schon alles verstehen. Heute erzählen sie dir halt, daß der Storch mit seinem langen Schnabel im Froschteich stochert, bis er zwischen all den Fröschlein ein kleines Baby findet, dann steigt er majestätisch auf und bringt das Kind in seinem Schnabel zur Mutter - und wenn er ihr das Kind in den Schoß legt, dann kann es schon mal vorkommen, daß er sie mit seinem langen, spitzen Schnabel ein wenig zwickt. Vater lacht und streicht mit seiner wunderbaren, warmen Hand über meinen Blondschopf. Wir werden alle vom Storch aus dem Teich im Tal der Frösche herausgefischt, als Kinder, und erst wenn wir dieses Tal verlassen haben, sind wir erwachsen.
Plötzlich schwappt eine warme Welle voll liebevoller Erinnerungen an ihn über mir zusammen, krampft sich um mein Herz und läßt meine Tränen aufsteigen, bleibt als häßlich kratzender Kloß in meinem Hals stecken. Während der langen gemeinsamen Wartezeit auf Mutters Rückkehr brauchte es damals sehr lange, bis ich zu erahnen begann, wie ihre Liebe starb. Was verstand ich schon davon, was er als Kriegsheimkehrer empfinden mußte, wenn die Leute im Dorf meine Mutter hinter vorgehaltener Hand als Soldatenliebchen und Franzosenhure beschimpften. Was verstand ich schon davon, wie verzweifelt sie nach meiner Geburt gewesen sein mußte, als Vater nach Kriegsende nicht und nicht heimkehrte und sie ihn tot glaubte. Was verstand ich schon damals über die doppelbödige Moral und die Leute, die sich gerne als keusche Biedermänner gaben, in Wahrheit jedoch bei jeder Gelegenheit ihren Teil an Geilheit und Sex austobten...
Nein, sag jetzt nichts! Ich schreibe, schreibe mit wehem Herzen über die Zeit, als ich noch im Froschteich schwamm und der Storch mich herausfischte, um mich ziemlich unsanft in den Schoß dieser Welt fallen zu lassen. Es ist eine seltsame Mischung aus Sehnsucht, Trauer, Wut und Lust, mit der ich über meine Anfänge im Tal der Frösche schreibe.