Die Verfolger kommen näher

Wimmer blickte unentwegt zu Henri Moret, während er berichtete, daß Weichsler allem Anschein nach Selbstmord begangen habe und daß von dem Geld nichts mehr da war — bis auf etwa Zwanzigtausend Franken, die die Polizei beschlagnahmt hatte.

Es wäre jetzt gut, dachte Henri Moret, wenn der alte Devenaz da wäre. Devenaz hatte lange genug mit seinem Vater zusammengearbeitet und wüßte mit Sicherheit, was zu tun wäre. Henri Moret war erst seit der Erkrankung seines Vaters in den Betrieb gekommen und hatte von all diesen Dingen, die leise und unauffällig erledigt werden mußten, nur bruchstückhaft gehört. Weichsler war tot, so viel stand fest, aber man wußte nicht, ob Rizzi seine brisanten Unterlagen an sich genommen hatte oder nicht. Und man wußte vor allem nicht, ob Rizzi Mittäter oder Werkzeug war; ob er sich in ersterem Fall mit diesem Raubzug zufrieden gab oder ob er in Weichslers Fußstapfen treten würde.

Das Schweigen wurde ihm zu lang, also forderte er Wimmer auf, er solle sagen, was er sich denke. Wimmer blickte kurz auf und schien einen Augenblick lang überrascht zu sein, dann rekapitulierte er die Faktenlage. Am Schluß erwähnte er, daß Rizzi seit über einem Monat in Mallorca auf der Hazienda seiner verwitweten Großtante lebe und sonst völlig unauffällig sei. Er nahm die Kopie eines Fax vom Tisch und sah es nochmals genau an. Nein, da sei kein Zweifel, Sechshunderttausend Franken, allerdings entspräche das ungefähr dem, was Rizzi in der Kantor‐Privatbank liegen hatte. Wimmer sah in seinen Blättern nach und sagte, daß die Sechshunderttausend den Bankauszügen zufolge in langen Jahren zusammengespart beziehungsweise nachweislich zu Recht ausbezahlte Prämien und Bilanzgelder von der Bank seien, das Geld vom Weichsler könne das daher nicht sein. Auch spräche für Rizzi, daß er sein Leben lang unauffällig und vor allem unbescholten für die Kantor Privatbank gearbeitet habe, daß die Pensionierung völlig den dortigen Gepflogenheiten entspräche und daß der Eigentümer, Dr. Kantor, nur das Beste über ihn sagen konnte. Unklar blieb, was ihn und Weichsler verband, wie sie zu einander standen. Der mit dem Schlapphut zog den Bericht der Kriminalbeamten aus dem Dokumentenhaufen hervor und legte einen Finger auf eine Stelle. Aha, die beiden haben sich in der Segelschule kennengelernt und 8 Segeltörns zusammen gemacht. Wimmer nickte, ach ja, klar.

"Über Neunhunderttausend Franken fehlen," sinnierte Moret halblaut, während er dachte, daß es vielleicht um einiges mehr war, weil sich sicher nicht alle Klienten bei ihm gemeldet hatten, "so viel kann doch nicht einfach so verschwinden!"

Wimmer nickte. "Ich glaube nicht an die Selbstmord‐Theorie, obwohl sie einleuchtend klingt" sagte er. "Nicht nur wegen des Geldes," setzte er nach, "sondern, weil nur beides zusammen ein rundes Ganzes ergibt." Wimmer wartete, ob Moret etwas dazu sagte, aber Moret blickte mit ernstem Gesicht auf die Tischplatte und schwieg. Wimmer wartete noch einen Moment, dann sagte er: "Wir sind beide davon überzeugt, daß Rizzi den Mord begangen hat und sich mit Weichslers Geld aus dem Staub gemacht hat!" Moret blickte erstaunt auf, denn Wimmer sprach sonst immer nur in der Einzahl, doch nun verwendete er das "wir", um die Einhelligkeit ihrer Meinung, ihrer gemeinsamen beruflichen Einschätzung zum Ausdruck zu bringen. Moret betrachtete eingehend Wimmers Gesicht, das er schon von klein auf kannte, aber er konnte kein Anzeichen von Unsicherheit entdecken. Nein, Wimmer sagte, was er dachte, und es gab keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Er blickte einen Sekundenbruchteil lang in die Augen des Mannes mit dem Schlapphut, in diese schrecklichen Augen, in denen er nicht nur Mord und Tücke, sondern auch hohe Intelligenz sah. Der mit dem Schlapphut sah ihn steinern an und nickte dann mit dem Kopf bejahend: er wäre der Ansicht Wimmers, mochte das heißen.

Henri Moret war unentschlossen. Die Mordvariante gefiel ihm nicht, weil das Geld immer noch fehlte. Hätte Rizzi das Geld gehabt, er hätte sich Wimmers Meinung angeschlossen. Aber so konnte es ebenso auch sein, daß er von Weichslers Machenschaften keine Ahnung hatte und nur unwissentlich an diesem Verbrechen mitgewirkt habe. Es konnte ebenso wahr sein, daß er sich nach seines Onkels Tod auf dessen Landsitz zur Ruhe setzte. Dafür sprach, daß er nur seine Ersparnisse aus Wien transferiert hatte, und daß er Weichslers Geld offensichtlich nicht besaß. Was aber, wenn .... Moret zuckte seufzend zusammen.

"

Wir müssen von der Selbstmord‐Variante ausgehen" sagte er, "zumindest so lange, bis Sie mir das Gegenteil beweisen. Mord oder Selbstmord, das ist mir zunächst egal!" Er unterbrach für einen Augenblick, bevor er fortfuhr: "Ich persönlich halte Rizzi für unschuldig, ein Werkzeug, das Weichsler einfach hinterlistig benutzt hat. Sowohl die Kantor‐Bank als auch die Schweizer Banken haben die Geschichte Rizzis bestätigt. Die Beute hatte er auch nicht. Vielleicht aber kann er wissen oder vermuten, wo die Beute ist oder wer Weichslers Freunde sind." Er machte eine lange Pause.

"Weichsler war Vollwaise und hat keinen einzigen Verwandten. Okay. Wer waren seine Freunde, Freundinnen? War da ein Mittäter oder jemand, der die Beute versteckt hat? Die Kriminalpolizei hat seine Wohnung nur oberflächlich durchsucht, ohne Erkenntnisse. Eine Schande! Man muß eine ordentliche Durchsuchung machen, es werden sich Korrespondenzen finden lassen, auch die Unterlagen für seine Raubzüge werden nicht erwähnt. Das stinkt!" Er machte erneut eine Pause und blickte fragend zu Wimmer. Der nickte, sie würden sich gleich dahinterklemmen. Moret setzte fort. "Wo immer das Geld ist, dort ist auch die Lösung zu finden, lassen Sie Rizzi in Frieden. Beschaffen Sie das Geld wieder!"