Pico fliegt nach Mallorca

Pico fürchtete sich vor dem Fliegen. Sein erster Flug, als ihn der alte Herr Kantor nach Jerusalem mitgenommen hatte, hatte ihn sehr beeindruckt. Später, als er segeln lernte, flog er manchmal zu Segeltörns, aber er hatte jedesmal eine Heidenangst, auch wenn er dies nie und nimmer zugegeben hätte.

Jetzt saß er in der Wartehalle des Flughafens, empfand eine tiefe Müdigkeit und nur mehr unterschwellig seine Nervosität. Die Ungeduld, es möge endlich losgehen beziehungsweise schon zu Ende sein, verblüffte ihn ebenso wie seine Ungeduld nach dem Tod Lilas, die die Begleiterin seines stillen und einfachen Lebens gewesen war. Auch damals, als seine Mutter beerdigt wurde, konnte er seine Ungeduld, es möge doch recht bald vorbei sein, nicht und nicht begreifen. Er fühlte, daß sich sein Leben irgendwie wieder schlagartig und grundlegend verändern würde, doch machte es ihn sehr betroffen, daß ihm die Ungeduld mehr als die Trauer zusetzte. Daß ihm die Ungewißheit in seinem Alter noch genauso nervös machte wie den damals Dreizehnjährigen, erfüllte ihn wieder einmal mit tiefer Unsicherheit.

Unsicherheit. Das war es wohl, was ihn sein Leben lang begleitet hatte. Der Tod von Onkel Rodolfo, seines letzten direkten Verwandten erfolgte fast zeitgleich mit dem Desaster, das Peter ihm eingebrockt hatte.

Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Er war Ende 50, erhielt eine gute Pension von der Bank, die ihn in den Vor-Ruhestand geschickt hatte und hatte sich entschlossen, sein Erbe, seinen Teil an Onkel Rodolfos Nachlaß in Mallorca anzutreten. Es hielt ihn nichts mehr in Wien; die scheue Abgeschiedenheit der ersten Jahrzehnte und die eher tolpatschigen Versuche, danach Anschluß zu finden, und die Katastrophe mit Peter bestärkten ihn noch mehr, Wien zu verlassen. Vielleicht hätte er schon früher aussteigen wollen. Er hatte sein Gepäck bereits vor Tagen vorausgeschickt, nur den großen Seesack aus steifem, dunkelblauem Plastikwachstuch nahm er auf den Flug mit.

Die Wartehalle des Flughafens Wien-Schwechat wirkte beinahe verlassen, obwohl einige nächtliche Charterflüge abgewickelt wurden. Pico und ein junger, griesgrämig wirkender Musiker waren die einzigen Gäste, die als Flugziel Genf hatten. Der junge Musiker lauschte grimmig in sich hinein, tastete manchmal mit einer Hand nach seinen Ohrhörern oder zum Regler seines Walkmans. Pico blickte nochmals auf die Uhr, er hatte noch mindestens zwei Stunden zu warten. Er blickte sich nochmals um, erwartete vielleicht, daß doch noch jemand vom Gericht oder ein Polizist auftauchen würde. Aber nicht dergleichen geschah, es blieb alles ruhig.

Die Warteräume waren wie große Glaskabinen aneinandergereiht, eine nach der anderen. Der Flug nach Mallorca über Genf war an der Tafel über dem Ausgang mit 03:25 angeschrieben, außerdem zeigte die Uhr die aktuelle Uhrzeit an. Pico mußte mal, also schulterte er seinen blauen Seesack und huschte in die Toilette. Als er zurückkam, strömte ein gutes Dutzend verschlafen wirkender Menschen an ihm vorbei, wankten ungeduldig schiebend und drängend in die nächste Wartekabine. Pico sah kurz zur Anzeigetafel. Chisinow 02:10 stand dort. Er wußte im Moment nicht, wo dieses Chisinow lag.

Eine Stewardeß kam an ihm vorbei und folgte rasch den Menschenmassen. Schon, während sie auf ihn zukam, betrachtete er ihren Körper wohlwollend und dachte: "eine wunderschöne, nackte Russin in enganliegender Uniform", dann mußte er säuerlich grinsen, weil dieser Gedanke sehr absurd klang, wenn man es vor sich hinflüsterte.

Die Stewardeß verzog keine Miene, weil er mit sich selbst flüsterte, aber als er halblaut "Kissinau" murmelte, drehte sie sich um und kam mit fragender Miene auf ihn zu. Pico erstarrte in seinem Selbstgespräch. Die Stewardeß sah ihn fragend an, betrachtete ihn von oben bis unten und hob freundlich die Augenbrauen. "Kisino?" fragte sie.

Pico schüttelte den Kopf, dann grinste er und sagte: "Kissy now, or kissy later, as you like!" Die Stewardeß stutzte nur kurz, dann hatte sie Picos Blick, der mit unverschämter Offenheit ihre Rundungen abtastete, richtig eingeschätzt. Mit einer etwas hochmütig wirkenden Geste strich sie mit der Handfläche über ihre Hüfte, bevor sie sich schnippisch abwandte und weiterging.

Pico setzte sich wieder auf seine Bank im Warteraum für den Flug nach Genf und sah manchmal unauffällig zu ihr hinüber, aber sie würdigte ihn mit keinem Blick mehr. Pico verwandelte sich innerlich immer mehr in den kleinen Jungen, der er einmal gewesen war, und der sich jetzt schämen mußte, weil er einer großen, schönen und mächtigen Frau ganz dumm gekommen war. Er haßte dieses Gefühl, aber es war eine immer wiederkehrende, beinahe zwanghaft auftretende Erfahrung, die ihm bei der Annäherung an eine starke Frau widerfuhr. Er war sich schmerzlich klar bewußt, daß er sich in den vergangenen zehn Jahren, seit er Witwer geworden war, reichlich schrullig und eigen entwickelt hatte und sein Auftreten Frauen gegenüber durch die Zurückgezogenheit noch scheuer und absonderlicher geworden war. Seine unzulänglichen Versuche, mit Frauen Kontakt aufzunehmen, waren häufig von einer peinlichen Penetranz und Distanzlosigkeit geprägt.

Nach einer Weile kramte Pico in seinem Seesack und zog die Kartonhülle, in der er einige Hefte aufbewahrte, heraus; die Tagebücher seiner Mutter und die von Lila begleiteten ihn nun schon jahrelang. Den Großteil hatte er vorausgeschickt, aber wie immer trug er einige Hefte bei sich und las, las sie immer wieder von neuem. Er hatte sie alle schon gelesen, aber er las und las immer wieder in den vergilbten Seiten, die sein letzter und einziger Bezug zur Vergangenheit geblieben waren. Es tat ihm wohl, sich in die "alte Zeit" zurückzuversetzen und nochmals nachzulesen, wie alles angefangen hatte, wie es gewesen war, damals, als er noch der kleine Pico war.