Anderntags, als der Meister mit Baron von Stetten und Oberstleutnant Kunze beisammen saß und die Möglichkeiten auslotete, Gespräche mit weiteren Geheimdienstleuten zu führen, zirpte sein Com – es war Roxane, und das Gespräch war mit "privat, dringend" gekennzeichnet. Er nahm das Gespräch sofort an und sagte "einen Moment bitte", erhob sich und ging mit einer entschuldigenden Geste hinaus. Auf dem Korridor sagte er: "So, jetzt bin ich allein, was gibt es?"
"Ich glaube, ich habe ihn gefunden! Die Adresse habe ich dir schon gesendet und hoffe, du kannst mich aus dem Weiteren heraushalten." Roxane klang ruhig und ihre Stimme verriet keinerlei Nervosität. Der Meister sah, dass auf seinem Com eine Nachricht eingegangen war. Natürlich würde er versuchen sie herauszuhalten, das versprach er und verabschiedete sich.
Während er wieder den Raum betrat, sandte er die Adresse an Oberstleutnant Kunze weiter, dann sagte er: "Der Gesuchte Dimitrov ist vermutlich unter dieser Adresse zu finden." Der Oberstleutnant sah sich die Adresse an, dann sagte er nachdenklich: "Libussagasse 10, das ist doch ein Männerwohnheim?!" Der Meister nickte zustimmend und sagte: "Ein anonymer Tipp." Nun rief der Oberstleutnant im Polizeipräsidium an und gab Anweisungen, diesem Tipp nachzugehen. Dann sagte er zu den beiden: "Es sollte nicht länger als 15 Minuten dauern, sie rufen mich sofort an, wenn sie ihn haben."
Sie setzen ihre Diskussion fort und der Baron meinte, er könnte noch im Lauf des späteren Vormittags, spätestens am Nachmittag erfahren, wann das nächste Gespräch der Geheimdienstleute stattfindet. Dann erhielt der Oberstleutnant den erwarteten Anruf. Man habe Dimitrov widerstandslos festnehmen können, obwohl er in der Libussagasse als Antonov gemeldet war. Er würde sofort ins Polizeipräsidium gebracht, das Verhör würde in einer guten halben Stunde beginnen, man rechnet damit, dass sie anwesend wären. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern erhoben sich die drei, ließen ein Taxi rufen und fuhren ins Polizeipräsidium.
Dort angekommen wurden sie von einem Hauptmann Benedek empfangen, einem kleinen untersetzten Mann, der trotz seiner schlanken Statur und seinen freundlich dreinblickenden Augen einen definitiv entschlossenen Eindruck machte. Er sagte, dass er das Verhör leiten würde und sie gerne vom benachbarten Beobachtungsraum zuschauen und zuhören konnten. Dann begleitete er sie in das erste Untergeschoss, wo die Verhörräume waren.
Nach wenigen Minuten wurde Dimitrov hereingeführt. Ein bulliger, großer Mann, der finster dreinblickte und sein Gegenüber musterte. Benedek las in seinem Akt und begann nun Name, Geburtsdatum und weitere persönliche Angaben vorzulesen und konnte feststellen, das Dimitrov zu allem zustimmend nickte. Nun betrat auch der Dolmetscher den Verhörraum und setzte sich neben Dimitrov. Sie tuschelten kurz, dann sagte der Dolmetscher, Dimitrov verstünde sehr gut deutsch, würde aber nur sehr schlecht Deutsch antworten können und so würde er alles wortgetreu übersetzen.
Benedek blätterte weiter und ging nun detailliert auf den Mord an Buchner und Steidl ein. Zunächst bestritt Dimitrov alle Fakten. Doch Benedek legte ihm die Fotos aus verschiedenen Überwachungskameras vor und sagte, dass man ihn und den Franzosen lückenlos von der Wohnung Buchners hin zum Donaukanal beobachten konnte und es keinen Sinn machte, alles abzustreiten. Dimitrov starrte wütend auf die Bilder, dann blickte er Benedek frech ins Gesicht und sagte: "Unschuldig!" Benedek blickte ihn ruhig an, dann nahm er einen Plastikbeutel, in dem eine Pistole war, aus seiner Tasche und legte ihn auf den Tisch.
"Diese Makarov 58 haben wir in Ihrer Unterkunft gefunden und sie passt sehr gut zu den Schusswunden." Nun legte Benedikt zwei Fotos der Ermordeten neben die Pistole und zeigte mit seinem ausgestreckten Finger auf Dimitrov: "Sie waren es, Sie und der Franzose, und sonst niemand! " Doch Dimitrov gab sich noch nicht geschlagen, schüttelte seinen Kopf und wiederholte mehrmals: "Nein!" Benedek tat, als ob er es nicht bemerkt habe und wiederholte, dass er – Dimitrov – eindeutig überführt wäre. Dann lehnte sich Benedek zurück.
"Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben?" donnerte er plötzlich und beugte sich wieder energisch vor. "Ich will wissen, wer Ihnen den Auftrag gegeben hatte!" Der Dolmetscher bemühte sich, die Frage in möglichst gleichen Ton dem Dimitrov zuzuflüstern. Der blickte nur stur auf Benedek und schwieg.
Meister Candor verfolgte die Szenerie mit angespannter Aufmerksamkeit und richtete seine ganze Konzentration auf Dimitrov. Er sah plötzlich Bilder, wieder aus der Moschee, wo Dimitrov sich mit einem kleinen, untersetzten Mann flüsternd unterhielt. Der Meister verbiss sich in dieses Bild und erkannte schließlich, dass dieser Mann der Moscheediener war. Der Meister sah fragend zu Kunze und flüsterte: "Kann ich Benedek kontaktieren?" Kunze beugte sich vor und betätigte einen der vielen Knöpfe, dann nickte er dem Meister auffordernd zu. Der Meister sagte halblaut: "Fragen Sie ihn nach dem Moscheediener!"
Benedek legte einen Finger auf den Ohrhörer, schien etwas verwundert, doch er fragte sofort: "Das hat doch etwas mit dem Moscheediener zu tun, oder?!" In Dimitrovs Gesicht war nun, für alle gut erkennbar, höchste Überraschung und Verwirrtheit zu erkennen. Benedek lehnte sich entspannt zurück und dachte sich blitzschnell eine neue Strategie aus. Er befragte nun Dimitrov nach seinen Besuchen in der Moschee, und dieser bestätigte, dass er mehrmals pro Woche dorthin gegangen sei. Das sei doch für einen gläubigen Muslim selbstverständlich. Benedek hatte ein kurzes Handzeichen gegeben, das Oberstleutnant Kunze sofort verstanden hatte. Kunze rief sofort bei der Bereitschaft an und ordnete an, den Diener in der Moschee Favoritenstraße festzunehmen und vorzuführen.
So sehr sich Benedek nun auch Mühe gab, mehr aus Dimitrov herauszubekommen, blieb dieser beharrlich stumm und beantwortete keine Fragen mehr. Mindestens 20 Minuten lang blieb Benedek am Ball und versuchte alles nur Erdenkliche, konnte aber den schweigenden Dimitrov nicht mehr dazu bringen, etwas auszusagen oder preiszugeben. Dann stand er auf und ließ Dimitrov wieder in die Zelle bringen.
Bevor sie wieder zurück zur Hofburg aufbrachen, ging Benedek auf Meister Candor zu und fragte, wie er auf diese Idee gekommen sei. Meister Candor hatte sich aber schon einen Gedanken zurecht gelegt und sagte, daß er bei vielen Befragungen festgestellt habe, daß Muslime sehr häufig über die Moschee und dort sehr häufig auch über den Moscheediener Kontakt zu Vereinen oder anderen Gruppen hatten. Fast immer war dieser eine zentrale Figur und einer der wichtigsten Mitglieder einer Moschee. So sei sein Hinweis nichts Außergewöhnliches, reine Erfahrung. Benedek wollte dem Älteren, der mit seinen langen grauweißen Haaren, dem langen schwarzen Umhang und dem Eichenstab als Gehhilfe einen imposanten Eindruck vermittelte – und bei Benedek eine im Unterbewußtsein vergrabene Erinnerung an den Magier Gandalf (aus dem Werk "Herr der Ringe") wachrief, – nicht widersprechen und verabschiedete sich, doch der Meister konnte deutlich die Verwirrung und die Skepsis in seinem Gesicht erkennen. Er war sich absolut sicher, daß der Meister ihn angelogen hatte und seine Karten nicht aufzudecken gedachte.
Die drei besprachen mit Benedek das weitere Vorgehen. Da mit der Festnahme und einem ersten Verhör des Moscheedieners innerhalb der nächsten halben Stunde zu rechnen war, verabredeten sie, im benachbarten "Café am Ring" zu warten und Benedek versprach, sie dort abholen zu lassen. Sie aßen dort eine Kleinigkeit und tranken Kaffee. Während ihrer Diskussion war Kunze der erste, der seinen Verdacht aussprach, daß hinter dem Ganzen eine türkisch–islamistische Gruppe stehen könnte. Er rief sofort bei der Sonderkommission an und ordnete an, sofort das umfangreiche Dossier über islamistische und türkische Gruppierungen mit letzten Erkenntnissen zu ergänzen und für ihn auf Abruf bereit zu halten. Sowohl der Baron als auch Candor schlossen sich dieser Meinung an, denn sie ergab Sinn.
Die Türkei war nacheinander von mehreren Autokraten mehr schlecht als recht geführt worden. Wirtschaft, Außenpolitik und auch die Gesellschaft insgesamt wurden sehr schlampig, ohne konkrete Ziele und Vorgaben, geführt und brachten das Land an den Rand des Zerfalls. Extreme Gruppen wie die Muslimbruderschaft, die Grauen Wölfe und auch der IS waren zwar offiziell als terroristische Gruppen verboten, doch die häßliche Hydra hatte ihr Haupt unübersehbar erhoben und hatten große Teile der türkischen Gesellschaft erfaßt. Außenpolitisch wurde die Türkei zum Paria, die westlichen Investoren hielten sich entschieden zurück und die gesamte Wirtschaft glitt ab. Die Nähe zum Nahen Osten, der völlig aus dem Ruder gelaufen war, verstärkte das Abgleiten der Türkei. Die Wirtschaft war schwerst angeschlagen, die Bevölkerung litt sehr und wurde für die Sache der Extremisten immer anfälliger. Der gegenwärtige Präsident Enerlik war ein brutaler Despot und mehr an der Vermehrung seines Vermögens als am türkischen Volk interessiert. Es war für niemanden überraschend, als er per Dekret das Wort "Korruption" aus der türkischen Sprache verbannte und ihre weitere Verwendung automatisch zur Anklage führte.
Es verging aber beinahe eine Stunde, bis ein junger Polizist suchend das Café betrat und den Dreien sagte, Hauptmann Benedek lasse bitten. Sie gingen zum Polizeipräsidium hinüber und gingen ins Untergeschoss zu den Verhörräumen. Durch die einseitig verspiegelte Glasscheibe betrachteten sie den Verdächtigen, einen kleinen, quirligen Mann, dessen dunkle Augen unstet umherblickten und abwechselnd Benedek, seine beiden Beisitzer und den wachhabenden Polizisten musterten. Er war schlank und sauber gekleidet, das pechschwarze Haar ordentlich gekämmt. Nichts deutete darauf hin, daß er möglicherweise ein höchst gefährlicher Verbrecher war. Benedek blätterte in einem dünnen Akt, blätterte weiter und wieder zurück und schenkte dem Verdächtigen keinerlei Aufmerksamkeit. Auch wenn allen diese Hinhaltetaktik bekannt war, verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Die steigende Nervosität des Moscheedieners äußerte sich in zunehmendem Zappeln und Hin– und Herrutschen auf dem Sessel. Meister Candor konzentrierte sich auf den Mann, aber er bekam noch kein klares Bild.
Benedek blickte auf und begann: "Wie heißen Sie?" – "Mehmet Karaman." – "Geburtsdatum und Ort?" Karaman beantworte die Standardfragen in ruhigem Ton, seine Anspannung ließ leicht nach. Die Frage nach seinem Beruf beantwortete er mit: "Moscheediener in der Moschee Favoriten" und Benedek hakte nach: "Also, Sie räumen in der Moschee auf, staubsaugen undsoweiter?" Nun lächelte Karaman und sagte: "Das auch, aber in der Moschee gibt es noch mehr zu tun." – Benedek: "Was zum Beispiel?" – Karaman: "Die Kollekte am Freitag einsammeln, Almosen an die Bedürftigen verteilen und sich mit allen Fragen oder Problemen von Moscheebesuchern beschäftigen, wie es der Müdür, der Imam, anordnet. Der Imam leitet mich an, was ich zu tun habe."
Benedek ließ sich Beispiele geben, welche Aktivitäten er auszuführen hatte und nach einigen durchaus plausiblen Antworten fragte er, ob der Imam für quasi alle Agenden verantwortlich zeichne. Karaman bestätigte dies und Benedek hakte nach, ob er nicht auch außerhalb der vom Imam vorgegebenen Agenden tätig sei. Karaman dachte über eine Antwort nach und sagte dann, daß er keinerlei Aktivitäten außerhalb der vom Imam vorgegebenen habe. Außerhalb seiner Arbeit in der Moschee habe er nur sein Familienleben und seine weitverzweigte Verwandtschaft.
Benedek lehnte sich zurück und sagte wie beiläufig: "Dann kann ich ja den Imam befragen, warum Sie den Dimitrov und den Franzosen" Benedek blätterte und setzte fort "den Franzosen Michel Duvier mit dem Anschlag und den Morden an Buchner und Steidl beauftragt haben?"
Karaman war vom direkten Gedankensprung überrascht und schnappte nach Luft. "Der Imam hat damit nichts zu tun!" rief er und biß sich auf die Oberlippen, denn er war sich seines Fehlers sofort bewußt. Benedek reagierte gar nicht, sondern fragte weiter: "Wer gab Ihnen den Auftrag? War es Ankara? Istanbul? – Ah, Istanbul. Es wäre ziemlich klug, jetzt alle Karten auf den Tisch zu legen, das könnte sich im Prozeß für Sie als günstig erweisen."
Doch Karaman schwieg. Ein Polizist trat ein und überreichte Benedek einen Akt, der ihn öffnete und die Seiten eingehend durchlas. "Hier sind noch weitere Kontakte, die Sie mit den Muslimbrüdern und Grauen Wölfen hatten, sehr interessant!" Benedek las halblaut einige Passagen vor und Karaman wurde ziemlich blaß, denn er war überrascht, wie genau die Experten gearbeitet hatten und wie engmaschig das Beobachternetz um ihn herum war. Benedek beschuldigte ihn immer wieder, das Attentat vorbereitet zu haben und spekulierte ungeniert, daß Karaman zum Beispiel die türkischstämmigen Arbeiter, die die Rednertribüne aufgebaut hatten, mit der Plazierung der Bomben beauftragt hatte. Karaman schwieg weiter, aber seine Körpersprache war eindeutig. Benedek traf mit jeder seiner Anschuldigungen ins Schwarze, doch für einen Prozeß brauchte man mehr als Anschuldigungen.
Nachdem es klar schien, daß Karaman eisern weiterschweigen wollte, beendete Benedek das Verhör und ließ Karaman in eine Zelle bringen. Dann ging Benedek zum angrenzenden Raum und befragte die Drei, ob sie noch Ideen hatten. Doch alle beglückwünschten ihn zu seinem offensichtlichen Erfolg und meinten, im Augenblick wäre nicht mehr herauszuholen gewesen. Den Rest, meinte Benedek, würden die weiteren Ermittlungen im Umfeld des Moscheedieners ergeben, da war er sehr zuverichtlich. Die Drei verabschiedeten sich und fuhren wieder in die Hofburg zurück.
Die drei unterhielten sich noch eine Weile, wobei Kunze zusicherte, daß die weiteren Ermittlungen von Leuten, denen er vertraute, durchgeführt würden. Benedek und seine Leute gehörten sicher nicht zu denn Rechten. Immerhin hatten sie nun eine gute Spur, die zwar ins Ausland, aber doch in bekannte Gefilde führte. Auch wenn ihre Spekulationen erst bewiesen werden mußten, war die Untersuchung seitens Meister Candors und Baron von Stettens abgeschlossen. Da bereits der Abend hereinbrach meinte Candor, daß er erst morgen der Königinwitwe berichten würde. Dann verabredeten sie sich für den nächsten Tag, ein jeder ging nach Hause.
Roxane und Marco waren nicht da, ein kleiner Zettel Roxanes informierte ihn, daß Marco bei einem seiner Mitschüler übernachtete, sie selbst sei im Ost–West. Candor ging gleich ins Badezimmer unter die Dusche, eine technisch perfekte Installation – der Hauptstrahl kam von oben, kleine bewegliche Düsen an den Seiten besprühten den Körper gleichmäßig. Die Glaskabine schloß sich geräuschlos, das körperwarme Wasser tat ihm sehr gut. Minutenlang genoß er mit geschlossenen Augen die angenehmen Strahlen. Als er die Augen öffnete, sah er Elaine vor der Kabine stehen.
Sie ließ das weisse Kleid von ihren Schultern sanft zu Boden gleiten und betrat die Duschkabine. Er sah sie wie in Trance an, spürte ihre Nähe und fühlte, wie sie sich an ihn schmiegte, ihr Kopf lehnte an seiner Brust. Er konnte ihren Körper ganz deutlich auf seiner Haut spüren, aber als er die Arme um sie legen wollte, griff er ins Nichts. So standen sie lange engumschlungen in der Dusche, schwiegen minutenlang und man hörte nichts als das Rauschen des Wassers.
"Wo warst du so lange?" fragte ihn das Trugbild.
"Ich habe eine sehr komplizierte Untersuchung geführt, meine Liebe, da fand ich kaum Zeit für mich oder ein Treffen mit dir." antwortete er. Er blickte auf sie herab, betrachtete voller Liebe ihren zarten Körper und lächelte.
Sie sprachen über ihren wunderschönen Urlaub auf Zakynthos, über die schöne hügelige Landschaft und die vielen freundlichen Nachbarn, mit denen sie sich, so gut es ging, mit Händen und Füßen verständigten. Er genoß das wunderschöne Glücksgefühl, das ihm diese Reise mit Elaine gab und hielt die Augen geschlossen, um ihre Nähe besser zu spüren.
Es schien eine endlose Ewigkeit vergangen zu sein, als sie sich aufrichtete und zu ihm sagte: "Liebster, ich weiß nicht, wann ich dich wiedersehen werde, ich muß jetzt aufbrechen." Wie durch einen Nebelschleier sah er, daß sich ihre Erscheinung aufzulösen begann. "Eines will ich dir aber noch sagen: warne alle, warne Italien. Es wird morgen um halb eins ein gewaltiges Erdbeben im Apennin geben, es werden viele sterben – rette so viele, wie du kannst!" Ihr Bild verblasste allmählich und verschwand dann gänzlich.
Candor erlangte sein Bewußtsein erst nach langer Zeit. Er fror, kauerte auf dem Boden der Duschkabine und das Wasser floß nur mehr spärlich. "Lucy, wie lange war ich duschen?" fragte er und Lucy antwortete: "Eine Stunde 22 Minuten." Er schüttelte ungläubig den Kopf und griff nach einem der vorgewärmten Badetücher. "Mach mir einen starken Kaffee" befahl er und trocknete sich ab. Nachdem er sich angezogen hatte, setzte er sich ins Wohnzimmer und trank vorsichtig den heißen Kaffee. Er nahm das Com zur Hand und rief im Aussenministerium an. Er gab durch, was er wußte – morgen, um halb eins, Erdbeben in den Apenninen. Die schläfrige Stimme am anderen Ende der Leitung machte ihn wütend, er verlangte, sofort mit Schaller oder Regner verbunden zu werden. Schaller war noch im Dienst und erkannte Candor sofort. Als der seine Warnung wiederholte, versprach Schaller, alles Notwendige zu unternehmen.
Um es gleich vorwegzunehmen: es ging schief. Schaller hatte zwar seine italienischen Kontakte sofort angerufen und das Wichtigste übermittelt, diese kannten Schaller gut genug, um seine Warnung ernst zu nehmen. Also trat ein Katastrophenalarmplan in Aktion, alle Bürgermeister der Apenninendörfer und die regionalen Gouverneure wurden informiert, daß die Bevölkerung auf ein Erdbeben um halb eins vorzubereiten sei. Die Bevölkerung solle im Freien darauf warten und ruhig bleiben. Dann begann das Warten. Es wurde halb eins, dann halb zwei, dann drei. Die Leute guckten sich an und warteten. Um sieben dann gab man das Warten schulterzuckend auf und man wandte sich wieder am Alltag zu. Es wurde zu abend gegessen, man sah fern und plauderte, manche schimpften auch auf die offensichtlichen Falschinformationen, die das österreichische Erdbebenforschungszentrum veröffentlicht hatte. Dann gingen sie schlafen.
Und genau da, zwischen halb und dreiviertel Eins, bebte die Erde, riß an vielen Orten den Boden klaffend auf, ließ Gebäude und Kirchen einstürzen. Das Beben riß sogar im weit entfernten Neapel eine Flanke des Vesuvs auf, wo sich glühende Lava vom Berghang Richtung Stadt ergoß. Glücklicherweise stoppte der Lavastrom, bevor er dichtbesiedelte Gebiete erreichte.
Die ersten Nachrichten vermeldeten einige Hundert Opfer, jedoch erhöhte sich die Zahl der Toten stündlich und war zu Mittag des nächsten Tages bei mindestens 2.500. Italien war in tiefe Trauer gestürzt und die Hilfsprogramme – auch jene aus dem Ausland – nahmen sofort ihre Arbeit auf.
Doch nun zurück zu Meister Candor. Nachdem er seine Warnungen an das Außenministerium weitergegeben hatte, befahl er Lucy, sie möge ein Abendessen herrichten, für zwei, Schweinebraten mit Kartoffeln, das wäre ihm recht. Er nahm sich einen Cognac, während er auf Roxane wartete. In den Nachrichten wurde bereits berichtet, dass in Italien Vorbereitungen auf ein erwartetes Erdbeben getroffen wurden.
Wie immer beobachtete er, wie sich die Küche – wie von Geisterhand bewegt – in Bewegung setzte. Verblendungen klappten auf, Hebelarme bewegten sich und brachten den Schweinebraten auf den Herd, der sich automatisch einschaltete. Andere Hebelarme kümmerten sich darum, geschälte Kartoffeln ins heiße Wasser zu legen. Auch der Esstisch klappte auf und deren Hebelarme deckten den Tisch für zwei Personen. Candor lehnte lehnte sich zufrieden zurück und genoss seinen Cognac und seine Zigarette.
Es verging aber beinahe eine Stunde, bis Roxane auftauchte. Er sah ihr gleich an, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte gerötete Augen und begrüßte ihn nur mit einem Nicken, dann ging sie in ihr Zimmer, um sich umzukleiden. Er folgte ihr und blieb in der Tür stehen. Wohlwollend glitt sein Blick über ihren schlanken Körper – er ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie in vielem Elaine glich. Was denn passiert sei, fragte er, doch schwieg er verständnisvoll, als sie ihm nicht gleich antwortete. Dann gingen sie gemeinsam ins Wohnzimmer.
"Im Ost–West hat man herausgefunden, dass ich den Dimitrov gemeldet habe. Nachdem dann bekannt wurde, dass dieser verhaftet sei, stürmten alle auf mich ein und beschuldigten mich. Ich sei eine Petze, eine Verräterin, das sagten sie alle. Ich habe mich verteidigt, so gut ich konnte und habe auch gesagt, wenn Dimitroff unschuldig sei, würde er bald freigelassen werden." Roxane begann wieder zu weinen und betupfte ihre Augen mit dem Taschentuch. Candor legte einen Arm um ihre Schultern und murmelte leise beruhigende Worte.
Roxane beruhigte sich und meinte, es wäre schon wieder gut. Sie könne sich sehr wohl in ihrem Verein behaupten und auch wenn im Augenblick alle gegen sie zu sein schienen, man würde die Sache bald vergessen und sie könne ihre Arbeit fortsetzen. Candor versprach, alles zu tun, was er könne, sich jedoch nicht direkt im Verein einmischen.
Nach dem Abendessen, als der Tisch das Geschirr in sich verstaute und der Geschirrspüler leise zu summen begann, befahl Candor Lucy, den Geschirrspüler zu stoppen und erst wieder in Bewegung zu setzen, wenn sie zu Bett gegangen seien. Dann holte er eine Flasche Wein und zwei Gläser, setzte sich wieder und berichtete dann Roxane, was sich an diesem Tag ereignet hatte.
Sie war zuerst sehr erstaunt, denn die Islamisten hatten schon lange keinen größeren Anschlag mehr ausgeführt. Dann aber, als Candor berichtete, was er in den Gedanken des Moscheedieners lesen hatte können, fügte sie Steinchen um Steinchen zusammen und meinte nach seinem Bericht, dass das alles einen Sinn ergäbe. Er schaltete den Fernseher ein, um die letzten Nachrichten zu hören. Das bevorstehende Erdbeben in Italien war in die zweite Reihe gerückt, die Hauptnachricht bildeten die Erfolge des Polizeipräsidenten bei der Ermittlung der Attentäter.
Candor musste lächeln, als aus "gut unterrichteter Quelle" berichtet wurde, dass anscheinend Islamisten, Muslimbrüder und auch Graue Wölfe die Urheber der Attentate waren. Den Berichterstattern aus Istanbul wurden türkische Offizielle zugeschaltet, die die Attentate noch einmal als greuliches Verbrechen verurteilten und zusicherten, dass die Republik Türkei selbst keinesfalls auch nur das Geringste mit den Attentaten zu tun habe. Man würde alles unternehmen, um die Verantwortlichen zu finden und sie der gerechten Strafe zuzuführen. Die türkischen Behörden würden mit den österreichischen Behörden eng zusammenarbeiten und alles in ihrer Macht stehende tun.
Candor schaltete das Gerät ab und berichtete nun Roxane über seine letzte Vision. Ja, die Vorwarnung für das Erdbeben in Italien kam von ihm, bzw. von Elaine. Mit weit offenen Augen hörte sie ihm zu, als er berichtete, wie sie zu ihm in die Duschkabine gestiegen sei. Dass er ihre Körperlichkeit ganz deutlich auf seiner Haut gespürt hätte, obwohl er sie, als er versuchte sie zu berühren, nicht berühren konnte, weil sie ja nicht da war. Und dass es ihn völlig verwirrt habe, denn eine solche Nähe hatte er in seinen Visionen bislang noch nie empfunden.
Roxana bat ihn, alles noch einmal im Detail zu erzählen und hing an seinen Lippen, als er neuerlich berichtete. Er kannte sie gut und wußte, wie gerne sie ihm zuhörte, wenn er über Sex sprach. Wie sie manchmal die Augen schloß und seine Worte lautlos formulierend wiederholte und leise seufzte, wenn sie sich das Bild gut vorstellen konnte. Er konnte ihre Erregung sehen und ganz genau spüren, daß sie auch noch anhielt, als sie zu Bett gingen.