Vermutlich ging ich Dr. Fürböck mit meiner ständigen Fragerei nach der Vergangenheit ziemlich auf die Nerven. Eines Tages erschien er mit einem großen Karton und sagte, da drin seien die Aufzeichnungen vom Doktor Giese, und er hoffe, dass ich darin genügend Antworten finden könne. Sofort begann ich, den Karton auszuräumen und die Akten zu überfliegen und zu ordnen.
Meist waren es Durchschriften der Vorträge, die der gute Doktor Giese gehalten hatte. In all diesem Durcheinander fanden sich aber auch viele handschriftliche Notizen, die ich erst ordnen musste, da sie offensichtlich durchwühlt und ungeordnet im Karton lagen. Bei der Durchsicht erkannte ich, dass alle Seiten sich auf Patienten bezogen, die er als Nummer 1 bis Nummer 5 führte.
Am nächsten Tag sprach ich Dr. Fürböck daraufhin an. Ich fragte, was aus diesen Patienten geworden war. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich zusammennahm und mir eine Antwort gab. Leider waren die ersten Patienten noch während der Sonderbehandlung verstorben. Auf mein Nachfragen hin sagte er, dass das Nummer 1, 2 und 3 betraf. Ich wäre Nummer 5, ich könne ja selbst sehen, dass die meisten Papiere sich auf die Nummer fünf bezogen.
"Und was ist mit Nummer vier?" fragte ich, und Dr. Fürböck brauchte eine geraume Zeit, um nachzudenken. Dann sagte er, dass Nummer 4 ein ganz besonderer Fall gewesen sei. Es handelte sich um eine junge Frau, vielleicht 24 oder 25 Jahre alt, die offenbar irgendeinen Schock erlitten hatte und als Komapatientin in das Institut eingeliefert wurde. Die Erinnerungen Dr. Fürböcks kamen nur bruchstückhaft und unzusammenhängend.
Sie – Dr. Fürböck meinte, sie hieße Eva – hatte gut erkennbare Würgemale am Hals, doch die Polizei, die den Fall untersuchte und den Freund der Frau ins Verhör genommen hatte, entschieden schlussendlich, dass kein Verbrechen vorläge. Der Freund versicherte glaubhaft, dass Eva das Choking liebte, dass sie also gerne während des Geschlechtsakts gewürgt werden wollte, da die verminderte Sauerstoffzufuhr ins Gehirn das Vergnügen steigerte. Diese Praxis war zu dieser Zeit sehr weit verbreitet und die Polizei, die auch andere Bekannte von Eva verhörte, erfuhr, daß sie für diese Vorliebe bekannt war. Das verabredete Zeichen zum Aufhören hatte sie diesmal aber nicht gegeben, und als er sie endlich losließ, hatte sie bereits das Bewusstsein verloren, worauf er sofort die Notrufnummer gewählt habe.
Dr. Giese hatte Eva als Patient Nummer 4 in sein Programm aufgenommen, sie wurde sozusagen sein Lieblingsobjekt. Jung und schön und schon so gut wie tot – das war für ihn eine Herausforderung. Er unternahm alles, um sie auf dem höchsten Stand seines Wissens zu behandeln und am Leben zu erhalten. Er verbrachte mehrere Stunden täglich bei ihr, um sicherzugehen, daß sie bestmöglich eingestellt war, daß alle Geräte perfekt funktionierten. Tagtäglich saß er mindestens eine Stunde neben dem Behälter, in dem sie lag, sprach mit ihr, streichelte ihre Hand und las ihr aus der Zeitung vor. Er war sehr zufrieden mit ihrem Zustand, denn sie war die erste, die nicht gleich verstarb. Während Dr. Giese Vorträge hielt, wissenschaftliche Papiere und Berichte ausarbeitete, nahm er sich immer Zeit, Eva zu besuchen. Das ging sogar soweit, dass er Dr. Fürböck als Stellvertreter zu Konferenzen im Ausland schickte, da er Eva nicht allein lassen wollte.
In manchen ihrer Gespräche erwähnte Dr. Giese gegenüber Dr. Fürböck, das er besonders mit der Gehirnstimulation Evas zufrieden sei. Er sagte, dass er zutiefst davon überzeugt sei, daß das Gehirn durch die dauerhafte Stimulation immer mehr Areale nutzte und – hier wurde Doktor Giese geradezu schwärmerisch – dass hier ein Sprung in der Evolution des Menschen stattfinde. Er wusste nicht, was diese Stimulation am Ende auslösen würde, aber er würde es bald wissen. Seinen Untersuchungen zufolge waren bereits an die 60% der Hirnareale – oder mehr – aktiv.
So kam dann der Tag, an dem er Eva aus ihrem Schlaf holte. Sie hatte ungefähr 50 Jahre im Koma verbracht. Dr. Giese sperrte sich tagelang mit Eva ein, prüfte und untersuchte jedes noch so kleine Detail. In den kurzen Pausen, die er sich gönnte, berichtete er Dr. Fürböck, dass Eva ein wunderbar gelungenes Experiment sei. Natürlich hatte ihre Muskulatur wie auch andere Körperfunktionen unter der langen Tatenlosigkeit gelitten, aber das würden die Physiotherapeuten wohl sicher durch anhaltendes Training verbessern. Aber ihr Wesen, ihr Wesen! Er hatte sie natürlich vorher nicht gekannt, aber sie war beinahe vom ersten Augenblick an wieder hellwach und wollte alles über sich und ihren Aufenthalt im Institut wissen. Die neurologischen Untersuchungen und auch die gewissenhaft ausgeführten MRTs bestätigten, dass sie 60 oder mehr Prozent ihrer Gehirnkapazität nutzen konnte. Das war für ihn phänomenal, ein Durchbruch, dessen Tragweite er noch gar nicht richtig einschätzen konnte.
Eva hatte das Training mit den Physiotherapeuten gut genutzt und konnte schon im zweiten Monat nach ihrer Erweckung ohne Hilfe gehen. Mit dem Sprechen tat sie sich anfangs schwer, da ihr Kehlkopf sich nicht vollständig erholt und sie deshalb eine tiefe, fast männlich klingende Stimme hatte. Stundenlang unterhielt sie sich mit Dr. Giese, lernte erstaunlich schnell die medizinischen Details, und wie Doktor Giese einmal scherzhaft erwähnte, könnte sie vermutlich innerhalb eines Monats das Medizinexamen absolvieren. Er schwärmte geradezu, wie hellwach ihr Verstand und wie schnell ihre Auffassungsgabe war. Er schwärmte davon, daß sie ihn stundenlang in Debatten verwickelte und mehr philosophische Fragen hatte als er beantworten konnte. Er schwärmte, daß hier ein evolutionärer Sprung stattgefunden habe.
Eines Tages – Dr. Fürböck war gerade auf einer Konferenz in Frankreich – fiel Doktor Giese einfach tot um, sein Herz hatte versagt. Am gleichen Tag verschwand Eva aus dem Institut. Dr. Fürböck verließ die Konferenz sofort und reiste wieder nach Wien. Der Todesfall hatte ihn zwar zum Institutschef gemacht, zugleich aber hatte er alle Hände voll zu tun. So war es nicht verwunderlich, dass er nur wenig Zeit in die Suche nach Eva investieren konnte und schon einige Wochen später nicht mehr an sie dachte. Er widmete sich voll dem Patient Nummer 5, um mich. Er studierte die Unterlagen des verstorbenen Doktor Giese und befolgte deren Anweisungen ganz genau. Nummer 5 entwickelte sich gut, Tag für Tag besuchte er seinen Patienten, untersuchte ihn täglich. Hier beendete Dr. Fürböck seinen Bericht.
Ich hatte ihm atemlos zugehört und fragte nun, was denn aus Eva, Nummer 4, geworden sei? Dr. Fürböck zuckte mit den Schultern und sagte, er wisse es nicht. Er meinte, seiner Meinung nach hätte sie in ihrem geschwächten Zustand nicht weit kommen können und wäre wohl irgendwo als nicht identifizierte, unbekannte weibliche Leiche aufgefunden worden. Allerdings, sagte er, er habe noch Monate später bei der Polizei angefragt, doch es wäre nirgendwo eine unidentifizierte weibliche Leiche aufgefunden worden. Jetzt jedenfalls schien er sich keine Gedanken über den Verbleib Evas zu machen.
Nach diesem Gespräch war ich ziemlich aufgewühlt und begann sofort nach ihr im Internet zu suchen. Dies war ziemlich schwierig, denn ich hatte weder einen Familiennamen noch weitere Details über sie, daher blieben alle meine Nachforschungen ohne Erfolg. Es fand sich auch nirgendwo ein Bericht über ein Mädchen, das beim Choking ins Koma gefallen war. Trotzig bildete ich mir ein, ich hätte da draußen jemanden, mit dem mich etwas verband, eine Art Schwester im Schicksal.
Dieser Gedanke verließ mich nie.