Untersuchungen

Untersuchungen

Es war bereits der zweite Tag, doch der Meister konnte immer noch nicht die Hintergründe des Attentats sehen. Er hatte alle Bediensteten, alle Wachen und das Küchenpersonal befragt, ohne jeden Erfolg. Der persönliche Assistent des Königs, Karl Buchner, sowie einer der Wachen, ein gewisser Josef Steidl, waren unauffindbar und konnten nicht erreicht werden. Er rief natürlich sofort beim Polizeipräsidenten Thüringer an und bat, die beiden zur Fahndung auszuschreiben. Bisher konnten sie jedoch trotz Fahndung nicht aufgegriffen werden.

Candor hatte nochmals die Magd Dina zur Einvernahme geladen. Er bat sie, sich noch einmal ganz genau zurückzuerinnern, wie sie den Prinzen aufgefunden hatte, und ihm alles ganz genau zu beschreiben. Sie möge die Augen schließen und alles, aber wirklich alles erzählen.

Sie schloss gehorsam die Augen und dachte angestrengt nach. Der Meister bemerkte, daß seine Worte ihre suggestive Wirkung entfalteten. Dann begann sie zu sprechen.

Sie war, wie jeden Abend, recht spät zum Prinzen aufgebrochen, sie hatte zuvor noch geduscht und ein sauberes Kleid angezogen. Der Prinz, berichtete sie, lag schon im Bett und schien friedlich zu schlafen.

Wie jeden Abend zuvor ging sie leise um das Bett herum und nahm den Weinbecher vom Nachtkästchen. Den kleinen Rest Wein kippte sie in das Waschbecken. Dann ging sie leise wieder hinaus, legte den Becher auf eine Anrichte und ging wieder zurück in das Zimmer des Prinzen. Sie legte ihre Kleider ab und schlüpfte vorsichtig unter die Bettdecke. Sie setzte fort: "Es war wie immer, ich wartete ein bißchen," Dina errötete und hielt sich die Hand vor den Mund, ".... dann hob ich die Bettdecke an um .... zu sehen, ob der Prinz .... bereit war."

Noch während sie ihn betrachtete, begann der Prinz plötzlich zu husten und zu würgen. Erschrocken legte sie ihre Hand auf seine Stirn, die ihr sehr heiß vorkam. Nun sah sie, dass er bleich und völlig verschwitzt war. Sie erschrak heftig, doch dann stieg sie aus dem Bett und rief über das Haus–Com den Baron an. Er möge bitte sofort kommen.

Sie stand immer noch zitternd neben dem Com, als der Baron wenige Augenblicke später hereinstürmte. Der Baron starrte sie völlig entgeistert an, sie wies mit der Hand auf den Prinzen. Dann bemerkte sie seinen gierigen Blick und wurde sich ihrer Nacktheit plötzlich bewusst. Also zog sie sich hastig an, während der Baron den Puls des Prinzen ertastete und über dessen schweißnasse Stirn strich, dann sei der Baron wieder wortlos hinausgestürzt.

Sie blickte zum Baron, der wie gewohnt im Hintergrund sass, und wartete, dass er etwas sagte. Der Baron blickte Candor an und nickte, dann meinte er, es sei alles genauso gewesen.

Der Meister hatte, wärend sie erzählte, versucht, tief in ihren Gedanken zu lesen und konnte sich die gesamte Situation bildgetreu vorstellen. Nachdem Dina ihn wieder erwartungsvoll ansah, fragte er: "Bevor du in sein Zimmer getreten bist, hast du da nicht jemanden am Gang gesehen?"

Dina schloss noch einmal ihre Augen und dachte angestrengt nach. Sie zappelte ein bisschen herum, während der Meister sich wieder auf ihre Gedanken konzentrierte. "Ja, da war jemand" sagte sie zögernd und blickte verwundert zum Meister auf.

Der Meister meinte, die Gestalt erkannt zu haben und fragte: "Könnte es der Buchner gewesen sein?" Dina dachte kurz nach und sagte dann: "Vielleicht". Sie dachte noch einmal angestrengt nach, dann sagte sie: "Ich habe ihn nur schemenhaft gesehen, aber es könnte schon der Buchner gewesen sein. Aber ganz sicher bin ich mir nicht."

Der Meister bedankte sich bei ihr und erlaubte ihr zu gehen. Dann war er mit dem Baron allein. Dieser sagte mit großer Verwunderung: "Mann, da haben Sie voll ins Schwarze getroffen!" Candor überging diese Anmerkung und sagte, man müsse die Spur sofort verfolgen. Augenblicklich rief der Baron bei der Sonderkommission an und sagte dann, vom Buchner gäbe es immer noch keine Spur, genau so wenig wie vom Steidl. Beide blieben verschwunden.

Am Nachmittag jedoch, als er mit dem Baron, Meister Edelmann und Meister Gregor gemeinsam die Ergebnisse diskutierte und sie allerlei Theorien wälzten, kam ihnen Kommissar Zufall zu Hilfe: die Sonderkommission rief den Baron an und berichtete, dass einige spielende Kinder im Gebüsch entlang des Donaukanals bei der Weißgerberlände zwei Leichen gefunden hatten. Es waren Buchner und Steidl, beide waren mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet worden. Der Rat sah sich hilflos an, denn jetzt war ihre einzige Spur ins Leere gelaufen. Die Sonderkommission versprach, den Morden schnellstmöglich nachzugehen. Sie beendeten die Sitzung und trennten sich.

Meister Candor ließ bei der Königinwitwe nachfragen, ob er sie zur Berichterstattung aufsuchen könne, was bejaht wurde. Sogleich machte er sich auf den Weg und war drauf und dran, an ihrer Tür anzuklopfen, als er dahinter leises Getuschel und Kleiderrascheln hörte. Nach wenigen Augenblicken klopfte er jedoch an und wartete. Das Getuschel verstummte, er hörte eilige Schritte und das Klappen einer Tür, dann öffnete die Königinwitwe.

Sie hatte ein schwarzes Kleid an, das wie ein Dirndl geschnitten war. Sie strich sich den Rock glatt und zog das Kleid über ihre Brüste hoch. Eine Hand blieb noch auf ihrer Brust liegen, und sie schien ihn zu testen, ob er in ihre Augen sah. Etwas enttäuscht ließ sie die Hand sinken, denn der Meister durchschaute diese kleine Geste sofort. Er machte keine Anstalten, auf ihr Kokettieren einzugehen.

Er folgte ihrer einladenden Geste, ging voraus und setzte sich auf einen Stuhl. Auch die Königinwitwe setzte sich, schlug die Beine aufreizend langsam übereinander und sah ihn von unten an. Sie tauschten kurz einige Sätze aus, als er sich erkundigte, wie es ihr heute ginge. Sie sagte, dass sie über den Tod zweier geliebter Menschen völlig gebrochen sei.

Er wollte gerade über die Vernehmung von Dina sprechen, doch da tauchte ein Bild vor seinen Augen auf und er fragte: "War das vorher nicht der junge Abgeordnete Schneider?" Ihre Augenlider begannen zu flattern wie kleine Vögelchen, die nach einem Ausweg suchten. Dann schlug sie umständlich langsam ein Bein über das andere, um seinen Blick auf ihre Unterschenkel zu lenken, was ihr diesmal tatsächlich gelang. Sie quittierte sein Starren mit einem süffisanten, triumphierenden Lächeln. Dann sagte sie, dass man in schweren Zeiten jeden guten Freund braucht, den man hat. Trotz der Ablenkung gelang ihm ein Einblick in ihre Gedanken, die ihm bestätigten, dass sie mit dem Schneider ein Techtelmechtel hatte, doch im Augenblick schien ihm das nebensächlich. Dennoch nahm er sich vor, dem später nachzugehen.

Nun berichtete er, das nach seiner Meinung der Prinz keinem Attentat, sondern sehr unglücklichen Umständen zum Opfer gefallen sei. Sie schien völlig überrascht, als er berichtete, dass Prinz Ludwig regelmäßig vom Wein des Königs genascht habe, und das wäre ihm schlussendlich zum Verhängnis geworden. Das Attentat hätte nur dem König allein gegolten. Elisabeth begann zu Weinen und betupfte die Augen mit einem Spitzentaschentuch. Candor fiel nichts ein, was er ihr zum Trost hätte sagen können.

Nach einer Weile blickte sie auf und sagte, wie leid es ihr täte, dass ihr Sohn so unvernünftig gewesen sei und vom Wein des Königs getrunken hätte. Sie weinte heftiger, als er ihr das in höflicher Form bestätigte. Während er wartete, dass ihr Weinen etwas nachließ, versuchte er in ihren Gedanken zu lesen. Und es schien ihm, dass ihr Leid und ihre Trauer fast ausschließlich ihrem Kind, ihrem Ludwig galten. Ihr Unmut gegenüber dem toten König war unerwartet heftig, da sie ihm nun alle Schuld gab und sie alle Mühe hatte, ihre Gedanken zu kontrollieren.

Er aber wollte es wissen und meinte, dass das Attentat wohl von jemandem geplant war, der den König wirklich hasste. Fragend blickte er sie an und wartete. Sie hörte auf zu schluchzen und sagte, dass sie den König nicht gehasst habe. Obwohl – hier machte sie eine kurze Pause – obwohl es sehr schwer sei, jeden Morgen neben einem alten, müden Mann aufzuwachen. Er quittierte es mit einem aufmunternden Nicken, also setzte sie unvorsichtig fort und sagte, dass sie noch so jung sei und dass das Schicksal so ungerecht wäre, sie an die Seite dieses alten, schlaffen Mannes zu ketten. Kabale und Liebe, dachte der Meister und sagte, dass er es zwar nicht billige, aber sehr wohl verstünde, wenn sie an der Seite des jungen Herrn Schneider nach Freundschaft suche. Das war das Maximum, das ihm die Höflichkeit zu sagen erlaubte.

Viel lieber hätte er ihr gesagt, dass sie ganz genau gewusst haben musste, auf was sie sich einließ, als sie den alten König umgarnte. Und dass es ziemlich ungehörig war, dass sie den König wegen seines Alters verachtete und sich mit Jüngeren herumtrieb. Doch er unterließ diese Bemerkung und fragte sie, ob sie vor dem Attentat nichts bemerkt habe. Vielleicht eine Geste oder eine Äußerung von jemandem, der dem König Böses wolle. Die Königinwitwe dachte lange nach, und er verfolgte ihre Gedanken, so gut es ging. Schneider tauchte wieder auf, immer wieder, und dessen Getuschel in ihren Ohren.

Er wartete einen Augenblick, dann fragte er sehr direkt, ob vielleicht der Schneider eine Bemerkung gemacht habe? Ihr Blick verriet Erstaunen, doch sie schwieg. Er setzte nach und fragte nochmals, was Schneider denn zu ihr gesagt habe? Es dauerte lange, bis sie schließlich wieder zu ihm aufsah und dann zögernd zugab, dass Schneider hie und da eine Bemerkung fallen ließ, aber sicher nur, um seine Jugend und seine Manneskraft gegenüber dem des alten Mannes zu betonen. Doch dann erinnerte sie sich....

Er hakte sofort nach. Was genau hat der Schneider gesagt? Nun schwieg sie beharrlich. Doch erinnerte sie sich, es war einige Tage vor dem Attentat, daß Schneider leise sagte, wenn dem König vielleicht etwas zustieße.... Schneider setzte sich rasch auf und sagte: ".... dann wird Ludwig Thronfolger und du wirst Regentin, da er noch zu jung ist". Sie hatte ihn erschrocken angesehen und dann das Ganze gleich wieder vergessen.

Er sagte es ihr ganz genau so, wie er es gesehen hatte. Sie schüttelte trotzig den Kopf und ließ ein Beinüberschlagmanöver folgen, so langsam und bedächtig, daß es ihn ganz aus dem Konzept brachte. Daß sie keine Unterwäsche trug, mußte er gesehen haben, denn das triumphierende Lächeln in ihren Augen erinnerte ihn an den heimtückischen Blick einer Katze auf der Jagd. Er stammte noch aus einer Generation, wo keine Königin ihre glattrasierte Scham und die gut sichtbare Spalte schamlos zur Schau stellte. Er riss sich zusammen, denn er wollte sich nicht davon ablenken lassen, was er in ihren Gedanken gesehen hatte. Er wischte den anderen Gedanken beiseite, das war wirklich nicht wichtig. Er ärgerte sich vor allem über sich selbst, daß er sich von ihr beliebig manipulieren ließ. Er ärgerte sich über sie, daß sie trotz ihrer Trauer immer noch berechnend sexy war.

Abrupt stand er auf und verabschiedete sich von der Königinwitwe, ohne ihr in die Augen zu sehen. Er eilte ein Stockwerk hinunter und traf dort auf den Baron, der vor einem Bildschirm saß und in sein Com diktierte. Der Meister setzte sich neben ihn und erzählte das Wesentliche aus seinem Besuch bei der Königinwitwe. Sogleich machte sich der Baron daran, alles über den Abgeordneten Schneider herauszufinden. Dieser war Mitglied der Rechten und vertrat sie im Parlament. Mehr fand der Baron bei dieser schnellen Suche nicht, aber es genügte für eine Diskussion.

Der Meister wunderte sich zunächst, daß ein Rechter sich mit der Königin einließ. Andererseits jedoch, wenn er mit dem Attentat in Verbindung wäre, machte es sehr wohl Sinn. Ja, es macht Sinn, nahe beim Opfer zu sein und diesen auszukundschaften. Der Meister beriet sich mit dem Baron, wie er den Abgeordneten zu einem Verhör vorladen könnte und ob dies eventuell juristische Probleme mit sich brächte. Das waren auch die Bedenken des Barons, doch wollten sie keine Möglichkeit auslassen, Licht in die Angelegenheit zu bringen.

Nachdem sie erfolglos über die möglichen juristischen Probleme diskutiert hatten, betätigte der Baron entschlossen sein Com und rief den Abgeordneten an. Er wechselte ein paar Höflichkeitsfloskeln mit dem Abgeordneten, bevor er ihn ersuchte, zu ihm in die Burg zu kommen. Er sei ja gemeinsam mit Meister Candor dabei, im Auftrag der Königinwitwe das Attentat zu untersuchen. Der Abgeordnete Schneider sagte ohne Zögern zu. Sie verabredeten, dass er in einer halben Stunde zum Baron käme.

Sie warteten ungeduldig, bis der Abgeordnete endlich erschien und führten ihn sogleich in das "Verhörzimmer". Meister Candor umriss noch einmal seinen Auftrag und fragte, ob ihm eine Befragung angenehm wäre. Der junge Abgeordnete versuchte sich in ein gutes Licht zu bringen und sagte scheinheilig, dass er alles tun wolle, um dieses schreckliche Verbrechen aufklären zu helfen. Alles, was er beitragen könne, sehr gern, und natürlich sei es ihm recht, dass die Befragung aufgezeichnet würde.

Candor unterhielt sich mit Schneider über diverse Dinge und Ereignisse, deren Antworten er ja aus der Recherche des Barons wusste. Schneider beantwortete die diversen einfachen Fragen, wie nach seiner Herkunft, seinen Schulen, seinem Studium aufrichtig. Damit erreichte der Meister, dass der Abgeordnete sich in sicherem Fahrwasser wähnte und langsam entspannte. Dann begann er, den Abgeordneten zu befragen, wie er in die Partei der Rechten gekommen und es dort bis ins Parlament geschafft hatte. Schneider gab ihm bereitwillig Auskunft und machte kein Hehl aus seiner Gesinnung und der Treue zu seiner Partei.

Der Meister fragte Schneider, ob die Verbindung, die es zwischen seiner Partei und der Burg gab, daraufhin deutete, dass es die Rechten waren, die das Attentat auf den König verübten. Die Rechten waren ja bekannt für ihre Ablehnung der Monarchie, obwohl sie immer wieder betonten, dass sie damit nicht den König persönlich, sondern das Königtum an sich ablehnten. Österreich den Österreichern, lautete eines ihrer Schlagworte, und nicht ein Österreich für den König. Abschaffung des Königs, Wiedereinführung der parlamentarischen Demokratie, keine Beschäftigung im höheren Staatsdienst für Zuwanderer oder Migranten der ersten Generation, um nur einige andere zu nennen.

Schneider bestritt jegliche Verbindung seiner Partei zur Burg, und natürlich zum Attentat. Das sei ungeheuerlich, meinte er. Meister Candor sah ihn streng an und fragte: "Und wie bitte soll ich die Verbindung zwischen Ihnen und der Königinwitwe sehen? Oder wollen Sie das auch abstreiten?"

Schneider duckte sich, als ob ihn ein Peitschenschlag getroffen hätte. Er hatte Elisabeth hoch und heilig versprochen, kein Sterbenswörtchen über ihre Beziehung fallen zu lassen. Nun sah er etwas hilflos zum Baron, dann wieder zum Meister und presste die Lippen aufeinander. Er hatte im Moment keine Idee, wie er aus dieser Falle herauskommen konnte. Er schwieg beharrlich weiter, eine Ader an seiner Schläfe pochte heftig.

Doch der Meister ließ nicht locker. Er bezichtigte Schneider der Unterwanderung und sagte, dass dieser sich nur zu dem Zweck an die Königinwitwe herangemacht hatte, um das Attentat vorzubereiten. Er machte eine kurze Pause und sah streng auf Schneider, der sich wie ein Wurm am Haken wand. Nein, nein, nein rief Schneider und schüttelte seinen Kopf, so sei das nicht gewesen. Er liebe Elisabeth aufrichtig und sie ihn.

Der Meister ließ ihm keine Zeit, sich irgend was auszudenken. "Im Gegenteil" setzte er fort, "Sie haben die Gutgläubigkeit der Königin ausgenutzt und sie dahin manipuliert, daß auch sie glaubte, daß es richtig sei, den König zu beseitigen und Prinz Ludwig an seine Stelle zu setzen. Damit wäre die Königin zur Regentin geworden, und Sie, Schneider, hätten einen sicheren Platz an der Sonne", donnerte er. Schneider, der sich zunächst empört aufgerichtet hatte, war nun in sich zusammengesunken. Er dachte lange nach, konnte aber nicht mehr tun als den Kopf zu schütteln. Er wirkte hilflos und entwaffnet, da sein großartiger Plan – das dachte er wirklich – aufgedeckt war. Der Meister schüttelte den Kopf verneinend und sagte: "Was für ein dummer, leicht zu durchschauender Plan!"

Der Baron hatte während dieser Unterhaltung auf seinem Com offenbar eine Nachricht verschickt, denn bald darauf öffnete sich die Türe und ein leitender Offizier aus der Sonderkommission setzte sich neben den Baron. Er flüsterte, dass der Polizeipräsident derzeit unabkömmlich sei und ihn geschickt hätte. Er hatte sich den letzten Teil der Unterhaltung interessiert angehört und machte sich handschriftliche Notizen in einem kleinen Notizblock.

Der Meister sagte, dass ihm die Königinwitwe von einer derartigen Unterhaltung berichtet habe. Er wollte nun von Schneider wissen, wer ihm diesen Plan vorgeschlagen habe, jemand aus seiner Partei oder jemand aus der Burg? Doch Schneider saß zusammengekauert auf seinem Stuhl und schwieg. Obwohl der Meister mehrfach nachfragte, gab er keine Antwort. Das Schweigen zog sich noch einige Minuten hin, dann entließ der Meister Schneider und forderte ihn auf, für weitere Befragungen der Sonderkommission zur Verfügung zu stehen, keinesfalls dürfe er die Stadt verlassen.

Schneider war gegangen, sie blieben zu dritt noch sitzen, und aufgeregt trommelten der Baron und der Offizier mit ihren Theorien auf den Meister ein. Er aber blieb bei seiner Meinung, dass erstens Schneider viel zu unerfahren und zu einfach gestrickt sei, um so einen Plan auszuhecken und auch erfolgreich durchzuführen. Zweitens wäre es für die Partei der Rechten viel zu riskant, mit einem solchen Attentat, das direkt auf sie wies, eine Staatskrise zu provozieren. Der Baron und der Polizeioffizier jedoch blieben davon überzeugt, dass sie Recht hatten und beschlossen, die Verbindungen Schneiders genauer zu untersuchen.

Der Meister zuckte die Schultern und meinte, dass er nichts dagegen habe und stand auf. Während er ins Vorzimmer ging, rief er bei der Königin an und ersuchte neuerlich, Bericht zu erstatten. Er solle in 20 Minuten kommen, sagte ihm die freundliche Assistentin. So nutzte er die verbliebene Zeit und ging in die Küche, um eine Kleinigkeit zu essen. Er zählte sich nicht zu den feinen Leuten, die sich das Essen servieren ließen, nein, er war ein einfacher Mensch, der sich in die Küche setzen konnte. Dies und sein ernsthaftes Auftreten verschafften ihm Respekt. Dann ging er zur Königin hinauf.

Die Assistentin ging ihm voraus und klopfte an die Türe, dann öffnete sie und hieß ihn einzutreten. Kaum hatte er sich hingesetzt, erschien schon die Königinwitwe und er erhob sicher wieder, um sie zu grüßen. Sie hatte sich ein kürzeres schwarzes Kleid angezogen, das ihr viel zu kurz war, oben ziemlich weit ausgeschnitten, der Ausschnitt war spitzenbesetzt und hob einladend ihre vollen Brüste hervor. Sie lächelte zufrieden, da sein Blick einen Augenblick zu lang auf ihren Brüsten ruhte. Nachdem sie sich gesetzt hatten, drehte sich der Meister ein wenig zur Seite, um nicht wieder auf ihr Beinüberschlagsmanöver hereinzufallen, das hatte er sich fest vorgenommen. Er war immer noch ein Kind des 20. Jahrhunderts und hatte seine Schwierigkeiten mit der jetztigen hochsexualisierten Gesellschaft.

Zum Anfang sprachen sie über Belanglosigkeiten und Smalltalk. Der Meister bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sie die Beine immer wieder übereinander schlug und versuchte, seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Er spürte beinahe körperlich ihren Ärger, daß ihre Strategie nicht aufging. Da beschloss er, die Befragung aufzunehmen. Er berichtete der Königinwitwe in groben Umrissen über das Gespräch mit Schneider. Er müsste aber die Sache weiterverfolgen und ersuchte sie, sich noch einmal an die Gespräche mit Schneider in Bezug auf den König zurückzuerinnern. Er bat sie, sich ganz entspannt zurückzulehnen, die Augen zu schließen und sich an das Gespräch mit Schneider zu erinnern. Mit einer aufreizenden Pose ließ sie sich zurücksinken, und nach einem koketten Blick zu ihm schloß sie die Augen. Daß ihr Rock dabei ein gutes Stück hochgerutscht war, war sicher nicht unbeabsichtigt, ebensowenig die unauffällige Handbewegung, mit der sie den Rock noch höher schob. Da sie die Augen geschlossen hatte, riskierte er einen neugierigen Blick auf ihre nackte Scham. Er sprach leise weiter, dann erkannte er, daß sie in eine leichte Trance verfiel.

Er beobachtete sie ganz genau, folgte ihren Gedanken im Zickzack und versuchte, die Bilder aufzuschnappen. Er wischte die schnell aufeinanderfolgenden Gedanken beiseite, denn sie dachte hauptsächlich an die vergnüglichen kleinen Momente, die sie erlebt hatte. Daran war er überhaupt nicht interessiert. "Bitte erzählen Sie noch einmal von dem Gespräch mit Schneider" sagte er und unterbrach ihren Gedankenfluss, deren Bilder sich um Küsse, Streicheln und Liebkosungen drehte.

Fast augenblicklich konzentrierte sie sich auf das Gespräch, das sie und Schneider geführt hatten. Es hatte damit begonnen, dass sie seiner Schönheit und seinem kraftvollen Körper schmeichelte und sagte, der König sei alt und schlaff und habe keinerlei Anziehungskraft mehr auf sie. Sie beklagte sich, allabendlich mit diesem alten Mann zu Bett zu gehen, sich ihm ein oder zweimal im Monat hinzugeben, obwohl sie keine Lust darauf verspürte. Belanglose Gedankenfetzen, wie sie dem alten Mann Befriedigung verschaffte, wie sie Höhepunkte stöhnend vorspielte. Ihre Gedanken schweiften ab, sie schien langsam den Faden zu verlieren.

Leise versuchte der Meister, ihre leichte Trance mit sanften Worten eindringlich zu verstärken und ermahnte sie, weiter zu berichten. Seufzend setzte sie fort, wie einfühlsam Schneider auf Ihre Klagen einging. Er war so ein lieber Freund, hatte sie in den Arm genommen und getröstet und dann gemeint, wie schön es doch wäre, wäre sie den König los und hätte er sie alleine für sich. Sie war sehr geschmeichelt und meinte daraufhin, wie er es meine, den König los zu sein? Und dann sagte Schneider, wenn es den König nicht mehr gäbe, wäre Prinz Ludwig doch logischerweise der Nachfolger und da er zu jung sei, wäre sie Regentin. Sie beide würden das Königreich übernehmen.

Hier übernahm nun die Vorsicht wieder die Kontrolle über ihre Gedanken. Sie sagte leicht gekünstelt, nein, was er da sage wäre Hochverrat, dafür wäre sie nicht zu haben. Das Gespräch war hier beendet, doch der Meister konnte ihren Gedanken entnehmen, dass sie sich die Situation danach mehrfach in unterschiedlichen Varianten vorstellte. Regentin, ja, aber nicht unbedingt gemeinsam mit Schneider. Sie war sich klar darüber, dass er zwar ganz nett als Liebhaber war, aber zum Regieren konnte sie sich ihn nicht vorstellen. Er war zu jung und seine weltanschaulichen Ansichten, nun ja, zumindest kraus. Sie setzte sich plötzlich aufrecht, hellwach sah sie ihm in die Augen und sagte: "Nein, ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich habe mit dem Attentat auf den König nichts zu tun!"

"Aber Sie sind doch gedanklich auf seine Vorstellung eingegangen", sagte er und blickte sie aufmunternd an. "Offensichtlich hat Schneider genau erkannt, was Sie sich insgeheim wünschten" setzte er hinzu.

Die Königinwitwe war nun hellwach. "Es ist richtig, dass ich darüber nachgedacht habe, aber ich habe das Gespräch sofort abgebrochen, als mir klar wurde, worauf es hinausläuft." Energisch zog sie ihren Rock zurecht und vollführte wieder ihr Beinüberschlagsmanöver, jedoch ohne Erfolg, da der Meister beharrlich zum Fenster hinaus schaute. Er fragte die Königinwitwe, wie sie darüber dachte, dass Schneider an dem Attentat beteiligt wäre. Doch sie schüttelte den Kopf und meinte, sie könne es sich nicht vorstellen, dazu sei er weder klug noch mutig genug. Als der Meister weiter fragte, meinte sie, dass Schneider sich sehr darum bemüht habe, Buchner und Steidl für die Anliegen der Rechten zu interessieren, das habe Schneider des öfteren erwähnt. Danach ergänzte sie noch, dass sie glaube, daß beide ein recht enges Verhältnis zu Schneider entwickelt hatten. Er versuchte, mehr herauszubekommen, aber sie sagte glaubhaft, dass sie nicht mehr als das wüsste.

Das Gespräch war ins Stocken geraten und der Meister erhob sich, um sich von ihr höflich zu verabschieden. Befriedigt stellte er fest, daß sie verärgert und enttäuscht war, daß er auf ihre Anzüglichkeiten nicht eingegangen war. Er war nun jedoch fest von ihrer Unschuld bezüglich des Attentats überzeugt.

Er gab der Kanzlei Bescheid, dass er den Nachmittag zu Hause sei, aber natürlich jederzeit erreichbar. Er machte sich auf den Heimweg und versuchte, Roxane zu erreichen. Er bekam jedoch keine Verbindung und rief nun Lucy an und fragte, wo Roxane sei. Lucy sagte, dass Roxane wie an jedem Mittwoch Nachmittag in ihrem Verein Ost–West sei und wahrscheinlich ihr Com auf Standby gestellt habe. Er brummte missmutig, wie vergesslich er geworden war, denn Roxane nahm ihre Anwesenheit in diesem Verein sehr ernst. Sie wollte etwas für all jene tun, die Osteuropa Richtung Westen verlassen hatten und nun Rat und Hilfe brauchten. Sie hatte keine Funktion im Verein angenommen, war aber pünktlich jeden Mittwoch dort.

Erleichtert legte er die Kleidung, die er zwei Tage lang getragen hatte, ab und nahm eine lange, heiße Dusche. Dann setzte er sich behaglich auf sein Sofa und befahl Lucy, Kaffee zu machen. Er überdachte noch einmal, wie das Gespräch mit der Königinwitwe gelaufen war und versuchte sich zu erklären, was ihn daran ärgerte. Das erste, was ihm einfiel, war, dass die Königin sich keine Zeit nahm, Trauerarbeit zu leisten. Das zweite war sein Ärger darüber, dass sie ständig kokettieren musste, mit allen und mit jedem. Aber andererseits war das keine Überraschung, sie war schon immer so. Was seinen Ärger wirklich auslöste, war die Erkenntnis, dass er auf ihre manipulativen Aktionen derart vorhersehbar reagierte.

Allmählich ließ seine Anspannung nach, er rief den Baron an und sagte, er würde gerne mit ihm noch einmal alles genau durchgehen, denn es konnte nicht sein, dass sie überhaupt keine Spur mehr hatten. Er würde in einer Viertelstunde wieder in der Burg sein.

Wieder in der Burg angekommen, empfing ihn der Baron und der Offizier aus der Sonderkommission, der schon am Vormittag bei der Vernehmung Schneiders anwesend gewesen war, Oberstleutnant Kunze, wie er sich erinnerte. Sie setzten sich zum Besprechungstisch und er wollte gerade anfangen, die Fakten, die ihnen bekannt waren, aufzuzählen, als sich Kunze zu Wort meldete. Er sagte, dass es vielleicht wichtig sei, dass beinahe zwei Drittel des Polizeiapparates zur rechten Reichshälfte zählte oder zumindest mit ihr sympathisierte. Er blickte die beiden an und sagte, das auch der Polizeipräsident Thüringer zu diesen zählte. Er selbst sei keiner Partei zugehörig und vertrete auch die Ansicht, dass die Polizei neutral zu sein hätte. Aber, sagte er, vielleicht war diese Information für ihr weiteres Vorgehen wichtig. Er jedenfalls habe starke Zweifel, ob die Sonderkommission sich wirklich um die Fakten und die Wahrheit kümmere oder sie nur wenig Interesse an einer restlosen Aufklärung hatte, um es vorsichtig zu sagen.

Die drei schwiegen, jeder hing seinen Gedanken nach. Dann sagte der Baron, dass er das nicht gewusst habe, zumindestens nicht die Dimension. Zwei Drittel! Und sie wären wahrscheinlich gut beraten, wenn sie das in ihrem weiteren Vorgehen berücksichtigten. Kunze nickte, und der Meister sagte, dass sie ab sofort die Sonderkommission, die zu einem Großteil aus Polizisten bestand, mit einem gewissen Abstand betrachten müssten.

Kunze hatte einen Packen Papiere dabei und breitete sie auf dem Tisch aus. Es waren Auswertungen der Bewegungen einzelner Personen, der zeitliche Ablauf, wo sie sich am Tag vor dem Königsmord aufgehalten hatten. Außerdem noch eine Aufstellung aller Telefonate in diesem Zeitraum. Sie beugten sich über die Papiere und konnten sehen, daß Buchner und Steidl sich mehrmals getroffen hatten. Candor deutete mit dem Finger auf einen dieser Treffpunkte: Buchner und Steidl direkt vor der Küche, mehrere Minuten lang, während des Abendessens der königlichen Familie.

"Es könnte sehr gut sein, dass dies genau der Zeitpunkt war, an dem einer der beiden das Gift in den Trinkbecher des Königs gemischt hatte" sagte er und blickte beiden an. Sie nickten und versuchten nun, alle Linien von Buchner und Steidl zu verfolgen, eventuelle andere konspirative Treffen zu finden, kamen aber zu keinem Ergebnis. Buchner war am späten Nachmittag zum Haupttor gegangen, hatte dort offenbar den Abgeordneten Schneider getroffen und war nach wenigen Minuten wieder zurück in der Kanzlei.

Meister Candor legte seinen Finger auf das Haupttor. "Ich vermute, der Abgeordnete hat Buchner dort das Gift gegeben, aber das ist wie schon gesagt nur eine Vermutung. Außerdem kommt es mir verdächtig vor, dass der Abgeordnete sein Com vor diesem Treffen für ca. zwei Stunden abgeschaltet hatte und wir seine Bewegungen so nicht zurückverfolgen können." Kunze versprach, die Auswertung von Videoaufzeichnungen am Haupttor selbst zu übernehmen und zog sofort los.

Der Baron sprach Candor auf die laufende Medienberichterstattung an, doch dieser verweigerte nach wie vor jedwede Teilnahme. Der Wirbel und das effektheischende Gezeter mancher Medien widerte ihn an. Er vereinbarte mit dem Baron, daß dieser gemeinsam mit dem Pressesprecher auch weiterhin die Interviews übernahm und alle Presseverlautbarungen wie bisher möglichst kurz und knapp zu halten seien und keinerlei Inhalte aus ihren Befragungen an die Presse gehen dürfe, kein Wort über die Verdachtsmomente gegen Schneider. Dem Baron wäre es lieber gewesen, hätte Candor ihm dies abgenommen und brummte, daß alle Berater des Königs auf Tauchstation gegangen seien – und das wäre nicht nur ihm aufgefallen. Doch der Meister ließ sich nicht überzeugen. Er sagte nur trocken: "Kein König – keine Berater des Königs", das bleibe so, bis ein neuer König bestimmt sei.

Der Baron berichtete, daß ihn Polizeipräsident Thüringer am Nachmittag angerufen habe. Der Parteivorsitzende der Rechten, Hoffmann, habe sich bei ihm bitter beschwert, daß der Abgeordnete Schneider ohne vorherige Rückfrage bei den Rechten befragt worden sei und daß dies nicht hinnehmbar sei. Der Baron berichtete mit einem satten Grinsen im Gesicht, daß er Thüringer beruhigt habe und selbstverständlich volle Kooperation versprochen hatte. Sie waren sich einig, daß die nächste Befragung von Schneider genauso wie die erste erfolgen würde, den Polizeipräsidenten würde man im Nachhinein informieren. Sie waren sich einig, daß das Einverständnis von Schneider genügen müßte und man sowohl Hoffmann wie auch Thüringer zunächst im Dunkeln lassen müsse.

Der Sohn König Karls, Prinz Erich, war tags zuvor aus London eingetroffen und in der Residenz seiner Tante Amelie, der jüngsten Schwester Karls, untergebracht. Die Granden der Regierung gaben sich die Klinke in die Hand und besprachen mit ihm die Thronübernahme, aber auch ihre dringlichsten Anliegen an den zukünftigen König. Sowohl der Baron als auch Meister Candor waren sich einig, noch ein bißchen zuzuwarten, um Prinz Erich kennenzulernen. Es war ja völlig unklar, ob Prinz Erich sie in ihren Ämtern beließ.

Dina, die frühere Magd von Prinz Ludwig, klopfte an und trat ein. Sie setzte sich auf die äußerste Kante des Stuhls und brachte dann ihre Frage vor. Was jetzt aus ihr werden solle, jetzt, nachdem Prinz Ludwig .... der Rest ging in Weinen unter. Der Meister sagte beruhigend, sie solle vorerst weiter zu ihrem Dienst kommen, bis spätestens nach den Begräbnisfeierlichkeiten würde man weitersehen. Hier unterbrach ihn der Baron und sagte, Dina solle in seinen Dienst treten und seinen Haushalt führen, denn er als Witwer hätte – er schmunzelte – da einen ziemlichen Saustall, sozusagen. Dina nickte dankbar, doch der Meister konnte einige Gedankenfetzen des Barons auffangen und mußte lächeln. Er nickte zustimmend. Dina dankte ihnen beiden und ging. Zum Baron sagte der Meister, immer noch schmunzelnd: "Sie sind aber ein kleiner Schwerenöter!" Beide lachten, und Candor sagte zum Baron, daß er ihm einen sauberen Haushalt gönne.

Der Baron, ein nicht sehr groß gewachsener Endvierziger mit einem kleinen Wohlstandsbäuchlein, kahlem Kopf mit silbergrauem Haarkranz und sehr energischem Auftreten, war sofort nach dem Tod seines Vaters, der schon seit Anbeginn der Regentschaft Karls bei diesem in Diensten stand, als einer der Treuesten in Karls Dienste getreten und hatte dem König wertvolle Dienste geleistet. Nicht nur war ihm die Ausbildung und Erziehung des Prinzen, sondern auch die Aufgabe zugeteilt worden, die Eskapaden und Liebschaften der Königin unter dem Deckel zu halten, was ihm auch bestens gelang – nur wenige innerhalb des Hofes wußten genau Bescheid. Der plötzliche, unerwartete Tod seiner Frau brachte ihn für einige Monate aus dem Tritt, doch er blieb seinen Aufgaben und dem König treu ergeben, denn der König verstand seine Gefühle und bat ihn beinahe täglich zum Nachmittagskaffee, was dem Baron sehr gut tat. Und jetzt, bei dieser sehr komplexen Untersuchung, war er ein eifriger, aufrechter Helfer, der im Gegensatz zu Candor den Umgang mit der Welt außerhalb des Hofes nicht scheute. Der Mord am König und dem Prinzen hatte die beiden eng zusammengeschmiedet.

Auf dem Heimweg warf Candor einen kurzen Blick auf den Heldenpark, den ehemaligen Heldenplatz. In der Mitte des kunstvoll angelegten Parks wurde gerade eine große Fläche mit Holzplatten als Rednerbühne ausgelegt und eine hohe Zuschauertribüne für die illustren Gäste errichtet. Er hatte ja mitbekommen, das viele hochrangige Gäste, Präsidenten, Könige und Regierungsoberhäupter zu den Begräbnisfeierlichkeiten anreisten. Er war froh, dass er mit diesen Vorbereitungen nichts zu tun hatte und sie vom bewährten Burgpersonal wie auch professionellen Veranstaltern gemanagt wurden.

Die ganze Last der vergangenen Tage fiel von seinen Schultern, als er daheim ankam und mit Roxane und Marco zu Abend aß. Sie blieben noch lange bei Tisch sitzen, und er berichtete, wie es um seine Untersuchung stand. Wenngleich er eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben hatte, nahm er sich die Freiheit heraus und besprach alles mit Roxane. Marco war in sein Zimmer gegangen und hatte sich zum Spielen an seinen Gamecomputer gesetzt.

Sie hatten sich bequem ins Wohnzimmer gesetzt, nebeneinander auf der Couch, und tranken Wein. Unter dem bestehenden Stress hatte er wieder zu rauchen begonnen, wie Roxane mit einiger Besorgnis beobachtete. Jetzt, da Marco außer Hörweite war, berichtete er von den Gesprächen mit der Königinwitwe und von ihrem anzüglichen Benehmen. Roxane hörte ihm geduldig zu und warf dann ein, was man so höre, sei die Königin immer schon eine lüsterne Verführerin gewesen. Er sagte, daß für ihn diesbezüglich keine Gefahr bestünde, denn er wüsste Bescheid und könne sich daher vor jedem Gespräch wappnen. Außerdem sei er viel zu alt für die Königinwitwe. Neugierig fragte Roxane, ob die Königin wirklich keine Unterwäsche trage, und er musste lächeln, bevor er antwortete und sagte: "Ja, das stimmt, das habe ich mit eigenen Augen gesehen", und dann lachten sie beide herzhaft, als er, um Roxane zu necken, alles bis ins kleinste Detail berichtete. Für Roxane war Sex etwas Selbstverständliches, doch sie neigte überhaupt nicht dazu, aufreizend oder kokett zu wirken. Und je detaillierter er nun die Details ausschmückte, umso herzlicher lachte sie mit ihm und war quietschvergnügt. Er merkte, daß sie mehr als nur ein kleines Bißchen voyeuristisch veranlagt war.

Begierig zu wissen, wie es um die Berichterstattung stand, hieß er Lucy den Fernseher hochfahren und sah sich einige Nachrichtenkanäle an. Überall war der Doppelmord in der Burg Thema Nummer eins, verschiedene Experten gaben ihre Theorien zum Besten, eine Verschwörungsidee nach der anderen wurde breit ausgewalzt. Mit einiger Genugtuung stellte er fest, dass weder die heimischen noch die ausländischen Nachrichtenagenturen über greifbare Ergebnisse berichten. Die Agenturen hatten keinerlei Vorstellung von dem, was sich vermutlich ereignet hatte. Trotzdem schaltete er nach einiger Zeit ab und sie gingen zu Bett.

Als er am nächsten Morgen aufstand, war Marco bereits zur Schule gegangen und Roxane saß auf der Couch und las. Als er sich nach dem Duschen mit einer Tasse Kaffee zum Schreibtisch setzte und gerade den Bildschirm in Betrieb nehmen wollte, überfiel ihn schlagartig eine Vision. Elaine, die sonst immer freundlich und entspannt schien, sah ihn diesmal sehr ernst an und sagte ansatzlos, ohne ihre sonstige Begrüßung: "Liebster, ich habe so sehr Angst um dich!" Er fragte sie, natürlich stumm, was sie denn meine. Roxane, die seinen abwesenden Blick richtig deutete, stand leise auf und ging ins Nebenzimmer. Elaine sagte: "Es wurden Bomben platziert! Sie sollen morgen bei der Begräbniszeremonie explodieren!" Er war wie vom Donner gerührt und blickte regungslos ins Leere.

So abrupt, wie die Vision erschienen war, verschwand sie augenblicklich wieder. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, er war versucht, sofort in der Burg Alarm zu geben, doch damit würde seine bislang geheim gehaltene Fähigkeit der Visionen unweigerlich bekannt werden. Das wäre ebenso der Fall, wenn er sich privat dem Baron oder dem Oberstleutnant Kunze anvertraute. Was also konnte er tun? Beinahe augenblicklich hatte er die rettende Idee: er würde anonym Alarm schlagen, doch dann verließ ihn seine Zuversicht – wie konnte er in diesem total überwachten Staat anonym ein Gespräch führen, wusste er doch, dass jedes Gespräch automatisch aufgezeichnet und jedermann, der sich befugt oder unbefugt Zugang zu den Logs verschaffte, einen Anruf zurückverfolgen konnte.

Er stand auf und ging zu Roxane. Mit leisen Worten schilderte er seine Vision und sagte dann, Marco müsse ihm helfen, der Junge sei sehr geschickt im Umgang mit dem Computer und er kenne niemanden mit besseren Computerkenntnissen. Roxane verstand augenblicklich und überlegte nur kurz, dann rief sie in der Schule an und bat, daß Marco wegen einer dringenden Familienangelegenheit sofort heimgeschickt werden solle. "Nein," sagte sie energisch, "das ist kein Scherzanruf, ich bin Marcos Mutter!"

Es vergingen höchstens 10 Minuten, bis Marco in die Wohnung stürmte. Besorgt sah er zu seiner Mutter und dann fragend zu Candor. Dieser bat ihn, sich hinzusetzen und schilderte ihm kurz sein Dilemma: er müsste dringend und sofort anonym telefonieren können und womöglich seine Identität, so gut es ging, verbergen. Vielleicht die eigene Rufnummer verändern oder löschen? Marco fragte nicht nach und überlegte blitzschnell, dann setzte er sich zum großen Schreibtisch und schaltete den Bildschirm ein. Er suchte und tippte, tippte und suchte, runzelte manchmal die Stirn und tippte neuerlich auf der Tastatur. Es konnten kaum mehr als fünfzehn Minuten vergangen sein, als er sich befriedigt zurücklehnte, nochmals das Getippte überflog und dann sagte: "Fertig!"

"Onkel Leo," sprach er Candor direkt an, "es funktioniert folgendermaßen: vor dem Anruf tippst du 149 in dein Com, dann kannst du unbesorgt anonym ein Telefonat führen. Falls du ein weiteres Telefonat haben möchtest, tippe nur 149. Ich habe es so eingestellt, dass in den offiziellen Logs der Empfänger auch als Sender eingetragen wird, es scheint also so auf, als ob der Angerufene sich selbst angerufen hätte. Zweitens habe ich einen Stimmenverzerrer mit eingebaut, so dass man dich nicht an deiner Stimme erkennen kann. Und drittens wird der Logeintrag des Anrufs auf deinem eigenen Com gelöscht. Das Programm 149 sei im Com sehr gut versteckt, aber ein Experte könne es natürlich leicht finden." In Markus' Augen war deutlich sein Triumph zu sehen. Der Meister überlegte eine Weile, dann lobte er den Jungen, dankte ihm und meinte abschließend, dass er einerseits froh darüber sei, wie gut dessen Computerkenntnisse wären. Andererseits – hier kratzte er sich am Hinterkopf – müsse man Angst haben, was mit der Technik heute möglich sei. Doch jetzt wäre er froh, dass er davon profitierte.

Roxane sagte zu Marco, dass auch sie sehr dankbar für seine Hilfe sei, doch wenn er sich jetzt gleich auf den Weg machen würde, könnte er die nächste Unterrichtsstunde noch pünktlich erreichen. Marco murrte ein wenig, wie es jeder 14–Jährige in dieser Situation tun würde, doch schnappte er folgsam seinen Schulranzen und verließ die Wohnung.

Der Meister rief sofort in der Burgkanzlei an, kurz und knapp deponierte er, daß für morgen ein Bombenanschlag auf die versammelten Staatsoberhäupter geplant sei und legte auf. Er wählte ein zweites Mal das Außenministerium und gab dort mit den gleichen Worten Alarm. Zuletzt rief er noch die Sonderkommission an. Dann lehnte er sich auf dem Sofa zurück und rauchte schweigend. Aber das Com blieb still, offenbar konnte der Anruf tatsächlich nicht zurückverfolgt werden.

Gerade, als er sich die dritte Zigarette angezündet hatte, rief der Baron an. In heller Panik sagte er, der Meister müsse umgehend und so schnell wie möglich in die Burg kommen, es sei wirklich wichtig, und mehr könne er am Telefon nicht sagen. Der Meister versprach, sich gleich auf den Weg zu machen. Er verabschiedete sich von Roxane und ging zur Burg.

Der Baron erwartete ihn schon ungeduldig am Haupttor. Während sie Richtung Kanzlei gingen, flüsterte er, dass eine Bombendrohung eingelangt sei und er den Oberstleutnant Kunze ersucht habe, sofort mit der Überprüfung zu beginnen. Dieser habe schnell reagiert, die Leute vom Entschärfungsdienst herbestellt und auch den französischen und amerikanischen Secret Service in den Botschaften benachrichtigt mit der Bitte, eventuell ihre geschulten Leute zu ihm zu schicken. Der Baron konnte ebenso wenig wie der Meister seine Nervosität verbergen, sie standen nebeneinander am Fenster der Kanzlei und blickten auf den Heldenpark hinaus.

Schon wenige Minuten später tauchten die ersten Wagen des Überfallkommandos auf, die Männer schwärmten aus und begannen, die Tribüne zu durchsuchen. Nach und nach kamen auch die Franzosen und die Amerikaner. Minutenlang konnte man nur sehen, dass fieberhaft gesucht wurde. Nach einer halben Ewigkeit hob plötzlich einer der Männer die Hand und pfiff schrill. Alle erstarrten augenblicklich. Der Kommandant lief zu dem Mann und sie unterhielten sich aufgeregt, der Mann deutete auf die Unterseite einer Sitzbank. Nun wandte sich der Kommandant mit lauter Stimme an die Männer und ordnete an, was sie zu tun hätten. Alle tasteten nun die Unterseiten der Bänke ab und zogen vorsichtig lange, dünne weiße Päckchen und kleine schwarze Kästchen hervor. Sie waren unter den bunten Papierstreifen, die nur das Holz kaschieren sollten, versteckt.

Der Baron hielt es nicht mehr aus und rief den Kommandanten direkt über sein Com an. Diese erklärte ihm kurz und knapp, sie hätten tatsächlich etwas gefunden, er würde gleich nach dem Ende der Aktion Bericht erstatten. So sahen sie weiter zu, wie die Beamten Päckchen für Päckchen zutage förderten. Plötzlich gab es einen lauten Knall.

Sie duckten sich beide, als die Scheiben erzitterten, tauchten vorsichtig wieder aus ihrer Deckung auf und sahen wieder auf den Park hinaus. Eine kleine Rauchwolke zog über den Park, die Männer des Entschärfungskommandos waren alle zur Seite gesprungen, die Tribünenkonstruktion wankte und fiel in sich zusammen. Sofort eilten einige Männer in das Explosionszentrum vor und begannen fieberhaft, Trümmer beiseite zu schieben und Verletzte zu bergen. Was zunächst wie ein heilloses Chaos aussah, erwies sich bald als gezieltes Vorgehen. Die Verletzten wurden vorsichtig herausgehoben, weggetragen oder auf den Rasen des Parks gelegt.

Sanitäter und Notärzte eilten herbei, sie waren ja bei all diesen Einsätzen mit Ambulanzwagen vor Ort. Der Meister und der Baron blickten aus dem Fenster, sie waren beide entsetzt über diesen Anschlag und nun hielt es der Baron nicht mehr aus, er aktivierte sein Com und rief den Einsatzleiter an. Der konnte aber nur bestätigen, dass es mehrere Verletzte gab, über Tote gäbe es noch keine Informationen. Dann legte er auf, denn er hatte keine Zeit, sich mit einem Hofschranzen auseinanderzusetzen.

Der Meister und der Baron unterhielten sich in gedrückter Stimmung und vermuteten, dass die Explosion entweder von außen ausgelöst wurde, oder aber einer der Männer des Entschärfungskommandos versehentlich eine Sprengung ausgelöst habe. Es war nun klar, daß dies nicht auf das Konto Schneiders oder der Rechten ging, nein, dies war viel größer. Aber sie mußten nun Schneider umso eher befragen, denn dies war ihre einzige Spur. Sie standen fast eine Stunde lang am Fenster, dann entschieden sie, in den Park hinunterzugehen und sich dort weiter zu erkundigen. Der Leiter des Entschärfungsdienstes schien zunächst verärgert, dass sich Zivilisten dem Ort des Geschehens näherten, doch dann erkannte er die beiden und gab ihnen weitere Informationen.

Es sei tatsächlich ein Mann seiner Truppe getötet worden, 8 weitere wären verletzt, jedoch keiner lebensgefährlich. Man hatte sie ins Spital gebracht, wo sie gut versorgt wurden. Er wolle den weiteren Untersuchungen der Technik nicht vorgreifen, aber er vermutete, das der tödlich Verunglückte wahrscheinlich selbst die Explosion unabsichtlich ausgelöst habe. Er erklärte anhand eines der kleinen schwarzen Kästchen, die sie gefunden hatten, dass ein Auslösen über das Comnetz unmöglich gewesen sei, da sie das Areal sofort funktechnisch isoliert hatten und daher von außen kein Signal eindringen konnte. Es blieb also nur die Möglichkeit übrig, dass der Mann versehentlich selbst die Sprengung ausgelöst habe. Der Sprengstoff selbst sei R12, sicher zehnmal so stark wie Semtex und wie dieses offiziell nur für das Militär verfügbar. Aber auf dem Schwarzmarkt könne man es jederzeit kaufen, setzte er mit grimmiger Miene hinzu.

Obwohl der Burgvogt sofort eine Absperrung errichtet hatte, waren die Medien kurze Zeit später vor Ort, Berichterstatter plapperten noch völlig unbestätigte Fakten in ihre Kameras, es klickten Fotoapparate und zoomten mit großen Objektiven auf die Trümmer. Bald berichteten die Medien auch weltweit von diesem Attentat und wälzten die Frage, ob und wann die Begräbnisfeierlichkeiten stattfinden könnten.

Der Meister und der Baron gingen wieder in den ersten Stock hinauf, wo sie Anweisungen gaben, den Regierungspräsidenten und einige ausgesuchte Mitarbeiter aus dem Außenministerium zum Gespräch einzuladen. Dann arbeiteten sie gemeinsam eine offizielle Presseerklärung aus, die sie versenden ließen.

Es verging keine Stunde, da war der Regierungspräsident und Mitarbeiter des Außenministeriums eingetroffen, ebenso der Burgvogt und eine Assistentin der Königinwitwe. Man setzte sich in den großen Konferenzraum und der Baron las nicht nur die Presseerklärung vor, sondern erläuterte auch in eigenen Worten das Geschehen. Zum Abschluss bat er die Anwesenden, die Sachlage zu diskutieren und hinsichtlich der Begräbnisfeierlichkeiten zu entscheiden. Er setzte sich und wartete gespannt auf die Diskussion. Meister Candor hatte währenddessen Meister Edelmann und Meister Gregor verständigt und gebeten, sie mögen ebenfalls teilnehmen. Mit einiger Verspätung trafen sie ein und setzten sich still an die Seite Meister Candors.

Der Regierungspräsident bestand darauf, dass die Feierlichkeiten wie vorgesehen stattfinden müssten, seien doch hochstehende Personen und Majestäten angereist, die man nicht einfach wieder nach Hause schicken konnte. Außerdem, sagte er abschließend, könne man sich von Terroristen nicht das Geschehen diktieren lassen. Er setzte sich wieder und blickte in die Runde, die ihm offenbar zu folgen schien. Dann erhob sich Meister Gregor und sagte, dass man weder über die Hintermänner Bescheid wisse noch darüber, ob doch noch irgendwo weitere Bomben versteckt seien. Das Königreich konnte es sich nicht leisten, daß einem ausländischen Gast etwas zustieße. Er plädierte dafür, die Gäste unverrichteter Dinge, dafür aber sicher heimkehren zu lassen und die Begräbnisse entweder zu verschieben oder, was er persönlich für besser hielte, in einem kleinen Rahmen nachzuholen.

Es sprachen noch mehrere Anwesende und taten ihre Meinung kund, doch im Wesentlichen blieb es bei diesen zwei Vorschlägen. Als das Stimmenwirrwarr und das Durcheinander etwas abklangen, sagte der Baron, es müsse abgestimmt werden. Diese fiel zugunsten Meister Gregors aus. Der Baron, der sich quasi als Vorsitzender betätigte, vergab nun die Aufgaben: der Regierungspräsident und das Außenministerium hätten alle Gäste bzw ihre Landesvertretung zu verständigen, dass die Feierlichkeiten abgesagt seien und die Gäste zu ihrem eigenen Wohl so rasch wie möglich die Heimreise antraten. Für einen weiteren Aufenthalt könne man ihre Sicherheit nicht garantieren. Das Begräbnis für König Karl und Prinz Ludwig würde zu einem späteren Zeitpunkt, vermutlich erst in zwei oder drei Wochen, erfolgen. Die Ankündigung und die Einladungen hierzu sollten erst kurz davor erfolgen, so dass es für einen Attentäter keine Möglichkeit zu einem weiteren Anschlag bestünde. Diese Aufgabe würde der Burgvogt gemeinsam mit der Burgkanzlei erledigen. Er blickte in die Runde und stellte dann fest, dass diese Vorschläge hiermit angenommen seien. Man stand auf, und der Konferenzsaal leerte sich. Der Regierungspräsident, dessen Machtbedürfnis nur noch von seiner Mediengeilheit übertroffen wurde, eilte jedoch zu den Kameras im Burggarten und ließ sich bereitwilligst interviewen.

Der Meister war mit dem Baron wieder in die Kanzlei gegangen, wo sie Kontakt mit Oberstleutnant Kunze aufnahmen. Sie wollten ihn mit weiteren Einsätzen des Bombenentschärfungskommandos betrauen, doch er sagte lächelnd, das habe er ja schon alles veranlasst. Mitarbeiter der Technischen Universität hatten noch einmal mit den besten und neuesten Geräten auf dem Gelände des Burghofs nach Bomben gesucht und hatten entdeckt, dass unter dem Rasen, wo die Rednertribüne aufgebaut war, zwei relativ große Bomben installiert waren. Sie wurden vom Entschärfungsdienst abtransportiert. Außerdem habe er sofort veranlasst, dass die Wasserwerke und die Stromversorgung der Stadt ebenfalls untersucht wurden, anschließend habe er vor diesen Institutionen und noch einigen anderen verstärkt Wachen aufstellen lassen. Insgesamt seien mehr als 600 Polizisten dabei im Einsatz.

Der Meister und der Baron hatten Meister Gregor gebeten, beim Verhör Schneiders dabei zu sein, obwohl es schon später Abend war. Doch während sie warteten, kam die Rückmeldung der Sonderkommission, dass Schneider nirgends zu finden sei und sein Com abgeschaltet habe. Also entschieden sie, dass Schneider zur Großfahndung auszuschreiben und notfalls mit Gewalt vorzuführen sei. Danach ging jeder nach Hause, nachdem sie vereinbart hatten, sich am Morgen wieder in der Kanzlei zu treffen.

Nach dem Abendessen saß der Meister noch lange mit Roxane auf der bequemen Couch, er rauchte und sie tranken ein Gläschen Wein. Er hatte sie zwar kurz nach der Explosion angerufen und gesagt, er gehöre nicht zu den Verletzten, doch jetzt hatte er genügend Zeit, ihr die Geschehnisse in allen Details zu erzählen. Roxane hörte ihm sehr aufmerksam zu, dann meinte sie, dass das wohl nicht eine Aktion des Schneider sei. Vielmehr glaube sie, dass es einen direkten Zusammenhang zum Attentat auf den König gäbe. Sie machte eine Pause und trank aus ihrem Glas. Dann setzte sie fort: wenn man es – zeitlich gesehen – von hinten nach vorn betrachtete, also dass das Hauptziel ein Attentat auf die Staatsoberhäupter und Majestäten sei, dann hatte der Anschlag auf den König nur dazu gedient, die Staatsoberhäupter und Majestäten auf einem bestimmten, klar vorhersehbaren Ort zu versammeln, um sie dort zu töten.

Der Meister meinte, das hätte sich die Gruppe, mit der er sich den Untersuchungen widmete, auch gedacht und sei zu dem Schluss gekommen, dass dies die wahrscheinlichste Variante sei. Er sagte auch, dass es, aus dieser Sicht betrachtet, nur wenig Sinn mache, die Spur über Schneider weiterzuverfolgen. Dieser sei vermutlich nur ein kleines Rädchen in einem großen Spiel. Aber wer waren die Spieler? Wer hatte so viel Macht? Es musste jemand sein, der Interesse am Chaos der europäischen Staaten hatte. Die Rechten und ihre populistischen Freunde und Sympathisanten waren viel zu klein und unbedeutend, um ein so großes Attentat durchzuführen. Der islamistische Terror verübte zwar regelmäßig vereinzelt kleinere Anschläge, doch es gab in den vergangenen 30 Jahren kein großes Attentat mehr.

Sie sahen sich noch eine Zeitlang Nachrichten im Fernseher an, dann gingen sie zu Bett. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht einschlafen. Leise stand er auf, betrachtete seine schöne Geliebte, die ruhig schlief und ging ins Wohnzimmer. Er las die Nachrichten, die im Internet verbreitet wurden, auf seinem großen Bildschirm und entschloss sich dann, dem Baron eine stumme Nachricht, die quasi "bist du noch wach?" bedeutete, zu senden. Der Baron antwortete fast augenblicklich telefonisch und gab zu, ebenfalls nicht schlafen zu können. Die Aufregungen des Tages und die verschiedensten Theorien und Vermutungen fuhren in seinem Kopf Karussell, und er war froh, sich mit jemandem unterhalten zu können.

Viel Neues kam dabei nicht heraus. Aber beide Männer waren froh, jemanden als Gesprächspartner zu haben. Sie wälzten verschiedene Gedanken hin und her, überlegten gemeinsam, wer wohl hinter diesem Anschlag, oder besser gesagt, den Anschlägen stand. Denn daß die Rechten allein dafür verantwortlich waren, glaubten beide nicht. Sie hatten wohl mitgemacht, aber es musste jemand Großer und Mächtiger dahinter stehen. Der Baron meinte, dass es zwar unter den großen und reichen Familien des Königreichs genug Feinde des Königs gab, doch schien es auch ihm unwahrscheinlich, dass eine von diesen die Verantwortung trage. Im Ausland gab es natürlich einige große Spieler. Die Großmächte, die rechtspopulistischen Parteien Skandinaviens, die sich zu einer großen Front zusammengeschlossen hatten, aber auch die Islamisten, die in den 30er Jahren wieder erstarkt waren, all diesen war einiges zuzutrauen.

Sie besprachen, welche ausländische Macht wohl hinter diesen Anschlägen stehen könnte. Natürlich erwogen sie zunächst, welche Vorteile sich die USA, Russland oder China davon versprechen konnten. Aber außer einem allgemeinen Chaos war wohl nichts zu erwarten, was diesen Staaten kaum nutzen konnte, außerdem hatte das Königreich zu diesen Staaten gute Beziehungen. Benachbarte europäische Staaten wie z.b. Frankreich konnte man getrost ausschließen, denn sie hätten keinerlei Vorteile aus diesen brutalen Anschlägen, dasselbe galt Deutschland ebenso wie Spanien oder Italien. Hingegen konnten sich beide vorstellen, das ein osteuropäischer Staat verantwortlich sein könnte. Der Meister mahnte sich selbst und den Baron vor voreiligen Schlüssen, denn das die osteuropäischen Staaten durchwegs in schweren Staatskrisen waren, in manchen sogar ein Bürgerkrieg tobte, konnte einen dazu verleiten, diese zu verdächtigen. Das Königreich hatte zwar mit all diesen Staaten ihren Frieden und keinerlei offene Auseinandersetzung, die Nachbarschaft aber gegen Osten hin brachte es mit sich, dass Schmuggler, dubiose Waffenhändler und Hitzköpfe aus allen Lagern im Königreich Fuß gefasst hatten.

Dennoch schien es ratsam, in den nächsten Tagen Kontakt zu Personen aufzunehmen, zu denen man eine Verbindung hatte. Der Meister äußerte sein Bedauern darüber, dass er keinerlei Kontakte zu Geheimdiensten habe und der Baron meinte, er würde seine Fühler ausstrecken. Ganz kurz dachte der Meister daran, Roxane über den Verein Ost–West einzubinden, doch er verwarf den Gedanken sofort wieder – seine Familie durfte auf keinen Fall in seine beruflichen Angelegenheiten einbezogen werden.

Draußen begann der Morgen zu grauen, sie verabschiedeten sich und dann ging der Meister wieder zu Bett, schlief noch zwei–drei Stunden, bis er endgültig aufstand und frühstückte. Er berichtete Roxane kurz über das nächtliche Gespräch mit dem Baron. Roxane hatte aufmerksam zugehört, und als er geendet hatte, meinte sie, sie würde in ihrem Verein ganz genau hinhören und ihm sofort Bescheid geben, wenn sich irgendwo irgendetwas als Spur herausstellen könnte. Und nein, er bräuchte sich keine Sorgen zu machen, sie wäre gut im Zuhören und würde sich auf keinen Fall auf gefährliches Terrain begeben. Sie hatte ihre Hand beruhigend auf seinen Unterarm gelegt und lächelte ihn an. Er war froh und dankbar über das stille Vertrauen und die Einigkeit, die sie beide verspürten.

In der Kanzlei angekommen erwartete ihn eine Überraschung. Oberstleutnant Kunze war sehr aufgeregt und berichtete, dass man den Schneider in einem Expressbus nach Salzburg gefasst habe und sofort in die Burg zurückgebracht habe. Er sagte, der gute Mann sei völlig von der Rolle und kaum ansprechbar. Er habe veranlasst, ihn wegen Suizidgefahr alle 10 Minuten zu kontrollieren. Sie sollten ihn so rasch es ging verhören, denn Schneider schien in einer Ausnahmesituation zu sein, die ein Verhör begünstigte.

Kaum war der Baron eingetroffen, suchten sie den Verhörraum auf und ließen Schneider vorführen. Völlig abwesend nahm Schneider Platz, seine Augen waren vom Weinen gerötet und er saß mit hängenden Schultern da. Der Meister nickte dem Baron zu, und dieser begann das Verhör.

Der Baron wollte wissen, was vorgefallen sei. Schneider begann wieder zu weinen, schüttelte die ganze Zeit den Kopf und schwieg. Der Baron fragte noch einmal nach, und ganz langsam hob Schneider seinen linken Unterarm und hielt es ihm entgegen. Der Baron erfasste die Situation schnell und er griff nach dem Com auf Schneiders Unterarm, löste ihn mit einem Knopfdruck und sah Schneider fragend an. Dieser forderte ihn stumm auf, das Gerät zu bedienen. Der Baron drückte nun auf die glatte, verchromte Oberfläche und las die letzten Meldungen. Sein Gesicht drückte heftige Betroffenheit aus. Er zeigte die letzten Meldungen dem Meister und dem Oberstleutnant.

Sie waren nicht darauf gefasst, diese schrecklichen Meldungen zu lesen. Es zeigte zwei Bilder, auf denen ein Kind und zwei Frauen zu sehen waren. Sie lagen gefesselt auf dem Boden und waren offensichtlich durch Schüsse in den Kopf getötet worden. Darunter war ein Satz zu lesen: "du hast alles versaut!" Mit schweigender Betroffenheit legte der Baron das Com auf den Tisch zurück.

Sie schauten alle drei schweigend zu Schneider und warteten geduldig, bis dieser sich etwas erholt hatte und nicht mehr so heftig weinte und schluchzte wie zuvor. Nach mehreren Minuten des Schweigens hob der Baron wieder an und fragte, wer diese Personen seien. Schneider konnte nur stammelnd antworten, irgendwann konnte man verstehen: "meine Tochter Lily, meine Schwiegermutter und das Kindermädchen – in Salzburg!" Er sah die drei in stummer Verzweiflung an und schrie: "tot! .. Alle tot!" Sein Gesicht verkrampfte sich erneut und er schluchzte voller Verzweiflung.

Die drei schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. Der Baron flüsterte, sie sollten noch ein bisschen zuwarten und erst später fortsetzen. Mit einer Handbewegung deutete er einem der Polizisten, die die Tür bewachten, er solle ihnen Wasser bringen. Als dieser das Wasser auf den Tisch stellte, tranken sie schweigend und ließen Schneider Zeit, die Fassung wiederzugewinnen. Die Minuten verrannen quälend langsam.

Den Meister war klar, dass hier besondere Umsicht walten müsste und sprach zunächst monoton und beruhigend mit Schneider. Offenbar sei hier etwas Furchtbares passiert, doch es sei sehr wichtig, dass Schneider die Dinge von Anfang an berichtete. Er müsste sich an den Beginn, an die erste Kontaktaufnahme erinnern und ihnen alles, auch jedes noch so kleine Detail, berichten.

Schneider wischte sich nochmals über die Augen, dann sah er den Meister gerade an und berichtete. Buchner und Steidl habe er schon vor Monaten angesprochen und versucht, sie für die Rechten zu begeistern, das war seine Initiative und hatte mit den nachfolgenden Ereignissen nichts zu tun. Seine achtjährige Tochter Lily sei, wie jedes Jahr, mit dem Kindermädchen nach Salzburg zu seiner Schwiegermutter auf Urlaub gefahren. Schneider unterbrach sich aufschluchzend und rang verzweifelt nach Fassung.

Zwei Tage vor dem Anschlag auf den König hatte er einen Anruf von einem Unbekannten erhalten. Gleichzeitig mit dem Anruf erhielt er ein Foto, das seine Schwiegermutter, das Kindermädchen und Lily gefesselt im Wohnzimmer zeigte, hinter ihnen standen zwei Bewaffnete. Der Unbekannte teilte ihm mit, alle drei würden sterben, wenn er sich widersetzte und seinen Befehl nicht ausführte. Schneider war zutiefst erschrocken und fragte, was man von ihm erwartete? Der Unbekannte sagte, er müsste am nächsten Tag exakt um 17 Uhr beim Haupttor der Burg warten und würde dort von jemandem eine Phiole zugesteckt bekommen. Er müsse dann unverzüglich die Phiole dem Buchner oder dem Steidl übergeben mit der Aufforderung, jene müssten den Inhalt in den Weinbecher des Königs mischen. Zur Tarnung könne er zuvor die Burg verlassen, und am Günstigsten schien es, wenn Buchner oder Steidl es auf dem Weg von der Küche in das Esszimmer machten. Dann konnten beide noch zeitgerecht aus der Burg verschwinden. Der Unbekannte habe ihn noch gefragt, ob er alles verstanden hätte und wiederholte seine Drohung, dass die drei in Salzburg umgebracht wurden, wenn er versagte.

Schneider holte tief Luft, denn das Wesentliche hatte er jetzt erzählt. Die drei warteten geduldig, bis er wieder weitersprach. Er hatte sich stundenlang das Hirn zermartert, ob er einen Ausweg habe, aber er fand keinen. Und nein, der Königin gegenüber habe er kein Sterbenswörtchen fallen lassen, selbst dann nicht, als sie ihn besorgt fragte, was ihn bedrückte. Er habe sie mit einer nichtssagenden Ausrede beruhigt.

Dann sei das Unheil genau nach den Vorgaben des Unbekannten abgelaufen. Er sei pünktlich beim Burgtor gewesen, jemand, den er für einen Passanten hielt, blieb kurz bei ihm stehen und drückte ihm ein kleines Päckchen in die Hand, bevor er weiterging. Das Gesicht habe er nicht erkennen können, es wäre alles sehr schnell gegangen.

Buchner und Steidl hatte er angelogen und ihnen glaubhaft weisgemacht, es handle sich um einen Scherz aus dem Freundeskreis des Königs. Man wolle dem König, der für sein Leben gern aß, für einen Tag den Appetit verderben. Der König habe, wie man allgemein wusste, bei der letzten Tafelrunde mit seinen Freunden offenbar einen schlechten Wein serviert, der diese einen Tag lang mit Durchfall und Erbrechen lahmgelegt hatte. Buchner und Steidl, die den König eigentlich liebten und verehrten, waren angesichts der Vorfälle nicht abgeneigt, diesem einmal einen Streich zu spielen.

Er habe Buchner am Haupttor, den er dorthin bestellt hatte, das Päckchen übergeben und ihm eingeschärft, dass sie beide gleich anschließend die Burg verlassen sollten, damit sie nicht verdächtigt wurden, denn dem König einen Streich zu spielen konnte einem rasch den Job kosten. Schneider schaute in die Runde und beendete seinen Bericht.

Nun lag es am Meister, Fragen zu stellen. Was könne er über den unbekannten Anrufer sagen? Schneider sagte, der Mann habe mit einem schweren Akzent gesprochen, aber er könne nicht sagen, aus welchem Land der Mann stammen könne. Europäisch? Westlich? Osteuropäisch? War es ein slawischer Akzent? Doch Schneider konnte nichts bestätigen, er sagte, er spreche keine Fremdsprache außer Englisch, er könne überhaupt nichts mit dem Akzent des Anrufers anfangen.

Die weitere Befragung Schneiders erbrachte keine neuen Erkenntnisse. Er hatte keine Ahnung, wer ihn erpresste, er konnte keinerlei Hinweise darauf geben, wer hinter den Anschlägen stand und war außerstande, Hinweise auf Identität, Nationalität oder Herkunft der Attentäter zu geben. Der Baron ließ Schneider abführen und ordnete an, dass dieser bis auf weiteres – bis zu seinem Prozess wegen Doppelmordes und Hochverrats – in Haft verbleiben musste.

Der Ablauf des Attentats schien allen klar zu sein. Oberstleutnant Kunze hatte während Schneiders Aussage in seinen Blättern einen Eintrag gesucht und bestätigte jetzt, daß Schneider tatsächlich zwei Tage vor dem Anschlag einen Anruf von einer nicht identifizierten Rufnummer erhalten hatte. Er berichtete des Weiteren, dass man auf den Überwachungsbändern die zwei Auftragskiller identifiziert habe, die Buchner und Steidl exekutiert hätten. Einer ein Franzose aus Korsika und der andere aus Bulgarien. Sie waren sofort zur Fahndung ausgeschrieben worden und die Polizei war zuversichtlich, die beiden bald gefasst zu haben. Man habe auch den aus den Trümmern der Zuschauertribüne geborgenen Sprengstoff und deren Zünder genau identifiziert, es war tatsächlich R12 sowie selbstgebastelte Zünder, die über das Comnet gezündet worden wären. Es konnten keinerlei Fingerabdrücke sichergestellt werden, so dass man diese Spur nicht weiter verfolgen konnte. Die Zünder konnten leicht mit Anleitungen, die im Internet frei zugänglich waren, zusammengebastelt werden, die Materialien waren in jedem Laden erhältlich und ergaben keine Hinweise auf die Täter.

Oberstleutnant Kunze versprach, die Bilder aus Schneiders Com sofort auswerten zu lassen, vielleicht konnte man aus ihnen zumindest Fahndungsfotos der beiden Bewaffneten erstellen. Kunze verabschiedete sich schnell und eilte zu seinem Team, die anderen blieben sitzen und besprachen die Aussagen Schneiders. Keiner der Anwesenden hatte den Eindruck, Schneider hätte nicht alles wahrheitsgemäß ausgesagt, keiner konnte ein Loch in der Argumentationskette entdecken. Es war ein recht einfacher, aber furchtbarer Plan, die den Königsmord nur dazu nutzte, um die Elite Europas auszulöschen.

Die Staatsoberhäupter und Majestäten waren unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen abgereist, insgeheim waren alle froh, daß dadurch die Gefahr eines noch größeren Anschlags gebannt werden konnte. Wann und wo die Begräbnisfeierlichkeiten stattfinden würden, darüber herrschte keine Einigkeit, es war aber auch kein vordringliches Problem. Viel wichtiger war es, die Hintermänner der Attentate zu finden.

Der Baron hatte bereits einige Leute aus dem Geheimdienst angesprochen, man hatte ihm sofort jegliche Hilfe zugesagt. Nach der Besprechung nahm der Meister den Baron zur Seite und sagte, er wäre gerne bei den Gesprächen mit den ausländischen Geheimdienstleuten persönlich dabei. Der Baron verdrehte die Augen und sagte, dass das sehr schwierig werden konnte, denn er hatte aus den Gesprächen mit seinen Geheimdienstkontakten heraushören können, dass diese selbst mit den ausländischen Geheimdienstleuten sprechen wollten. Er versprach, sein Bestes zu geben.

Der Meister ging nach Hause und setzte sich mit einem Glas Cognac in sein gemütliches Wohnzimmer und dachte in aller Ruhe über die letzten Ereignisse nach. Schneiders Geständnis hatte den Ablauf des Attentats hinreichend aufgeklärt, er hatte großes Mitleid mit dem armen Mann, der seine gesamte Familie verloren hatte, vermutlich auch die Freiheit für sein restliches Leben. Mit einem brutalen Faustschlag hatte das Schicksal dessen Leben völlig zerstört.

Die weitere Untersuchung, so glaubte er, würde sehr schwierig werden. Seine Bitte an den Baron, ihn bei den Gesprächen mit den Geheimdienstleuten einzuschleusen, entsprang seiner Überzeugung, dass er deren Gedanken lesen konnte und eventuell etwas mehr, als diese sagten, zu erfahren. Üblicherweise setzte er sein Talent, das Gegenüber in eine leichte Trance zu versetzen, dazu ein, um dessen Gedanken in eine bestimmte Richtung zu lenken und diese dann – zumeist in Bildern – zu lesen. Über diese Gabe war nur Roxane informiert, gegenüber allen anderen konnte er es bis jetzt geheim halten. Er wusste, wie nutzlos sie wäre, wenn seine Mitmenschen darüber Bescheid wüssten.

In diesem Moment fiel ihm ein, dass er seinen monatlichen Termin bei Dr. Fürböck absagen musste. Er strich über das Com und rief sofort im Institut an, doch Dr. Fürböck war persönlich nicht zu erreichen. Also hinterließ er, dass er bis auf Weiteres seine Termine absagen müsse und begründete dies mit den Ereignissen, die aus den Nachrichten bekannt waren. Er sei aus beruflichen Gründen in der Burg unabkömmlich.

Dann rief der Baron an und berichtete, dass er bei seinen Geheimdienstkontakten keinen Erfolg gehabt hatte. Es war undenkbar, dass ein Außenstehender – selbst ein Berater des Königs – an einem Gespräch unter Geheimdienstleuten teilnehmen konnte. Immerhin hatte aber der Baron herausgefunden, wann und wo das erste Gespräch stattfinden würde, nämlich schon heute gegen 17 Uhr im Hotel Memorial mit einem Franzosen. Der Meister sagte, er würde hingehen und versuchen, sich irgendwie einzuklinken. Der Baron verkündete, er wäre auch da, sie würden sich im Hotel Memorial treffen.

Als das Gespräch beendet war, bedauerte es der Meister, dass seine Französischkenntnisse sehr gering und verblaßt waren, obwohl er irgendwann – vor über 100 Jahren – Französisch in der Schule gelernt hatte. Er bezweifelte aber, dass er viel von der Unterhaltung verstehen würde. Es war schon spät, er duschte schnell und zog sich seine feinste Kleidung an, dann hinterließ er eine kleine handschriftliche Notiz für Roxane, dass er heute spät heimkommen würde.

Kurz vor 17 Uhr war er im Hotel Memorial – dem ehemaligen Bristol – angelangt und erblickte gleich den Baron. Nach einer kurzen Begrüßung fragte er den Baron, wo das Gespräch stattfände. Dieser klimperte mit den Augen und wies auf einen der hinteren Tische, wo sich zwei Herren unterhielten. Leise sagte der Baron, das sei sein Bekannter und der Franzose. Der Meister versuchte sogleich, deren Gedanken zu lesen, doch sie waren zu weit entfernt und rundherum wirkten die angeregten Gespräche anderer Gäste als störend. Er gab seine Bemühungen auf und fragte, einer Eingebung folgend, den Baron, wie es um dessen Französisch stünde. Heiter versicherte dieser, dass er fließend Französisch spreche und sah den Meister fragend an. Der dachte nur kurz nach, dann sagte er zum Baron, dass sie die beiden ansprechen mussten, wenn sie gingen. Der Baron war nicht ganz sicher, ob sie das zustande bringen konnten, aber er versprach, es zu probieren.

Tatsächlich, die beiden Herren brachen nach geraumer Zeit auf und gingen Richtung Ausgang, da erhob sich der Baron und begrüßte seinen Bekannten sehr freundschaftlich und reichte ihm die Hand. Dieser stellte ihm notgedrungen den Franzosen vor. Der Baron gab sich hocherfreut und plapperte sofort auf französisch los und mit einer einladenden Geste bat er beide Herren, doch an seinem Tisch Platz zu nehmen. Nun wurde der Franzose als Geschäftsmann und der Meister als Berater des Königs vorgestellt, er entschuldigte sich in sehr holprigem Französisch, dass er die Sprache nicht gut könne.

Das Gespräch verlief weiter auf französisch, und der Meister war erstaunt, dass er das meiste verstehen oder aus Einzelworten den Zusammenhang erkennen konnte. Nachdem der Smalltalk schon eine Weile gedauert hatte, mischte er sich wieder in holprigem Französisch in das Gespräch ein und fragte den Franzosen direkt, wer seiner Meinung nach hinter diesen furchtbaren und schrecklichen Anschlägen stecken könne? Der Franzose sah ihn kurz an und sagte dann, das ist ihm völlig schleierhaft sei, wer dahinter stünde. Der Meister versuchte vergeblich, die Gedanken des Franzosen in Bildern zu sehen. Entweder konnte er dessen Gedanken nicht folgen, oder der Franzose wusste wirklich nichts. Nach einiger Zeit verabschiedeten sie sich und verließen die Hotellobby.

Der Meister und der Baron gingen gemeinsam Richtung Freyung, wo der Meister wohnte. Er bedankte sich beim Baron, es sei sehr aufschlussreich gewesen, denn sein Eindruck vom Franzosen war, dass dieser wirklich nichts wusste. Es sei ihm sehr wichtig gewesen, das in einem persönlichen Gespräch zu hören. Er dankte noch einmal den Baron und sagte, wie wichtig es wäre, sich persönlich mit jemandem zu unterhalten, der vielleicht etwas wusste. Im persönlichen Gespräch können viele Faktoren die Kommunikation befördern, vieles von dem, was nicht gesagt werden konnte, kam so zu Tage. Die Worte, die Sprache wäre natürlich von Bedeutung, aber er könne die sublimen kleinen Fakten der nichtverbalen Kommunikation sehr genau lesen. Daher wäre es auch unbedingt notwendig, möglichst auch mit den Leuten aus den USA, Russland und wen immer die Geheimdienstleute erreichen konnten, auf einer persönlichen Basis zu sprechen. Sie waren auf der Freyung angelangt, wo der erste Ansturm auf die Snackbuden und kleinen Cafeterias bereits nachließ.

Sie nahmen an einem der abgelegenen Tische Platz bei "Da Toni" und tranken italienisches Bier – es war ein Nastro del diavolo, ein ziemlich starkes Bier von Moretti. Nochmals kam der Meister darauf zu sprechen, wie wichtig der persönliche Kontakt und seine Anwesenheit bei diesen Gesprächen sei. Er mußte den Baron auf seine Seite bringen, was ihm auch gelang. Der Baron begann nun seinerseits laut zu überlegen, wie man es am besten anstellen müsse. Es kam nichts Neues heraus, sie würden den Begrüßungstrick erneut anwenden müssen.

Später dann, beim zweiten Nastro, sprachen sie über die Zukunft, was sie tun würden, wenn der neue König sie nicht weiterbeschäftigte. Hier wurde der Baron ziemlich schwermütig, denn die von Stettens hatten sowohl unter König Franz als auch König Karl immer treu gedient. Er war ziemlich niedergeschlagen bei dem Gedanken, sich in Zukunft als Lehrer oder Funktionär bei einer Fußballmannschaft durchs Leben zu schlagen. Nur, um ihn aus dieser Misere herauszuholen sagte der Meister, der neue König würde sie sicher weiter in Diensten lassen. Viel mehr konnte er nicht tun, er selbst hatte keinerlei Sorgen, da er von seinem Vermögen sehr gut leben konnte.

Die Stimmung hatte sich gebessert und nun erfuhr der Meister, daß Baron von Stetten mit Vornamen Rüdiger hieß. Er sagte, daß sein bürgerlicher Name Leo Puchmann sei, worauf der Baron – wohl auch vom nunmehr dritten Nastro beflügelt – abwinkte und sagte, das alles wisse er, da er noch im Auftrag König Karls seine Überprüfung durchgeführt hatte. Sie lachten beide und der Meister sagte, nur gut, daß es keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen gab. Er begann, den Baron – Rüdiger – auszufragen und war sehr erleichtert, daß dieser nur die von seinen Rechtsanwälten erfundene Legende gefunden hatte. Er hätte sehr viel erklären müssen und ihre berufliche Freundschaft hätte sicher arg gelitten, wäre der Baron an die wahren Hintergründe gekommen. Als die Gläser leer waren, erwog der Meister ein weiteres Glas, doch bemerkte er rechtzeitig, daß der Baron unruhig auf die Zeitanzeige sah. Ein kurzer, winziger Check in die Gedankenwelt des Barons zeigte, daß dieser bereits auf dem Sprung war, da er von Dina erwartet wurde. Er lächelte milde und sagte, der Baron könne getrost aufbrechen, er selbst sei auch schon sehr müde und wolle zu Bett. Dankbar verabschiedete sich Baron von Stetten und eilte nach Hause, der Meister zahlte wie immer mit seinem Com und ging ebenfalls, er war ja praktisch schon zuhause.

Als er leise die Wohnung betrat, erwachte Roxane, die auf der Couch auf ihn gewartet hatte. Sie erhob sich und befahl Lucy, das Abendessen aufzuwärmen und bemerkte seinen wohlgefälligen Blick auf ihren Körper, denn sie hatte das dünne, kurze Nichts an, das er so liebte. "Oder willst Du nur den Nachtisch?" fragte sie neckisch, doch sein Blick war wieder verdüstert und er meinte, es wäre ein langer und anstrengender Tag gewesen. Sie setzte sich neben ihn, während er still aß, und berichtete, daß sie einen der Männer auf dem Fahndungsaufruf, den Bulgaren, erkannt zu haben glaubte und dieser vermutlich von ihrem Verein, Ost–West, untergebracht worden war. Sie wolle morgen nochmals zum Verein und versuchen, dessen Aufenthaltsort herauszufinden. Er hatte ihr aufmerksam zugehört und meinte, das sei vielleicht eine wichtige Spur, aber sie solle ja vorsichtig sein. Sie gingen zu Bett und er streichelte sanft ihre Hüfte, dann fiel er sofort in den Schlaf und schlief tief und traumlos bis zum Morgen.

Am nächsten Tag saß er mit dem Baron und Oberstleutnant Kunze im Besprechungszimmer und sie gingen noch einmal alle bekannten Fakten durch. Viel war es nicht, denn mit dem Geständnis Schneiders waren die meisten Fragen beantwortet. Einzig die Frage nach den Hintermännern des Anschlags blieb völlig im Dunkeln.

Oberstleutnant Kunze berichtete, dass einer der beiden Killer, die Buchner und Steidl getötet hatten, der Franzose Michel Duvier, das Land schon lange verlassen hatte und jetzt vermutlich in Spanien war. Trotz der internationalen Großfahndung konnte der Verdächtige bisher nicht gefasst werden.

Meister Candor berichtete, dass der andere Killer, jener aus Bulgarien, offenbar im Verein Ost–West gesehen worden war und er diese Spur weiter verfolge.

Mitten in ihr Gespräch platzte Fräulein Firnbach herein und teilte den Herren mit, sie würden einen Stock höher im kleinen Konferenzraum erwartet, Prinz Erich bitte sie alle zum Gespräch. Dann ergänzte sie, dass sie bereits die anderen Berater des Königs hergebeten hatte und sie sich schon oben im Konferenzraum aufhielten. Sie brachen sofort auf und gingen hinauf.

Sie mussten eine gute Viertelstunde warten, bis der Prinz eintrat. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann Mitte 40, er hatte das kantige Kinn seines Vaters, das von einem gepflegten, dünnen Bart bedeckt war. Seine Augen waren hell und blickten aufmerksam auf seine Gesprächspartner. Er war in bürgerlichem Zivil gekleidet und schien Wert auf seine äußere Erscheinung zu legen, seine sauber manikürten Fingernägel ließen aber keine übermäßige Maniriertheit erkennen. Er setzte sich ihnen gegenüber an den Konferenztisch und begrüßte sie mit einem leichten Neigen des Kopfes. Nachdem sie sich einige Augenblicke gemustert hatten, sprach der Prinz:

"Meine Herren, vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Wie Sie bereits wissen, wurde ich in meiner Eigenschaft als Kronprinz aus London abberufen und soll hier das Amt des Königs antreten. Wenngleich ich beinahe 20 Jahre im Ausland war, blieb ich dem König immer verbunden. Wir schrieben uns zu mindestens einmal im Quartal, ich erhielt auch ständig einen ausführlichen Statusbericht von Ihnen, lieber Meister Reichenhall. So war ich über das Geschehen im Land ständig aus erster Hand informiert, auch wenn jetzt, da ich König werden soll, es außerordentlich wichtig scheint, dass ich mit guten Leuten arbeite und auch gute Informationen erhalte.

Deshalb möchte ich Sie alle recht herzlich bitten, auf Ihrem bisherigen Posten zu verbleiben und mir nach der Thronbesteigung weiter zu dienen. Alle ihre Befugnisse, ihre Rechte und natürlich auch ihr Salär werden unverändert fortgeführt. Ich erwarte von Ihnen allen, dass Sie zu diesem Dienst bereit sind. Sollte einer von Ihnen aussteigen wollen, so sei ihm dies unbenommen, ich wäre niemandem böse, wenn er sich so entschiede." Der Prinz blickte von einem zum anderen, um herauszufinden, ob alle noch mit an Bord waren.

Meister Berkel erhob sich umständlich, verneigte sich vor dem Prinzen und sagte: "Lieber Prinz Erich, wie ich es bereits mit König Karl besprochen habe, wollte ich Ende dieses Jahres in Rente gehen, die Arbeit kann ich nicht mehr gewissenhaft ausführen. Ich stehe kurz vor meinem 90. Geburtstag und hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich mich zurückziehe und jemand anderem meinen Platz zur Verfügung stelle." Er verbeugte sich erneut und setzte sich umständlich wieder auf seinen Stuhl.

Der Prinz sah wieder von den Papieren, die vor ihm lagen, auf und blickte Meister Berkel freundlich an. "Lieber Meister Berkel, haben Sie Dank für ihre Offenheit und den aufrichtigsten Dank des Königreiches für ihre bisherigen guten Dienste. Selbstverständlich akzeptiere ich und wünsche Ihnen noch viele gute und vor allem gesunde Jahre. Ich werde Ihrer in meiner Antrittsrede freundlich gedenken und sichere Ihnen ein gutes Legat für die Zukunft zu. Sie haben während ihres Dienstes dem König treu in allen technischen Belangen als ausgezeichneter Experte gedient, und das wird nicht unerwähnt bleiben! Haben Sie nochmals Dank und bleiben Sie noch während dieser Sitzung bei uns." Der Blick des Prinzen ruhte freundlich auf Meister Berkel und Candor konnte in den Gedanken des Prinzen ein Bild der Zufriedenheit, aber auch der Sorge, wer denn als Nachfolger in Frage käme, erkennen.

Nun wandte sich der Prinz wieder an alle und sagte:

"Meine erste Frage an Sie ist, welche Empfehlung Sie für die Begräbnisfeierlichkeiten haben." Die Männer sahen sich an, dann erhob sich Meister Edelmann und sagte:

"Wir haben die Meinung, das man in ca. zwei Wochen das gemeinsame Begräbnis König Karls und des Prinzen Ludwig begehen solle. Eingeladen werden sollten alle Mitglieder des Hofes, der Regierung sowie Vertreter der vermögenden und einflussreichen Familien. Es sollte keine internationale, sondern eine nationale Veranstaltung sein, so würde auch die Berichterstattung eher klein zu halten sein. Da der König schon zu Lebzeiten entschieden hatte, an der Seite seines Vaters König Franz in der Hofburg bestattet zu werden, sei auch diese Frage geklärt. Ich übernehme gerne die Organisation, wenn es recht ist." Edelmann blickte sich in der Runde um und setzte sich wieder.

"Nun, da dies geklärt ist, komme ich zu einem weiteren Punkt, den ich mit meinen Beratern besprechen möchte." Der Prinz machte eine kurze Pause und blickte in die Runde. "Es betrifft Elisabeth, die Witwe meines Vaters. Es scheint allgemein bekannt zu sein, dass ich mit dieser Entscheidung meines Vaters nie glücklich war und dies auch nie verborgen habe. Das ist auch der Grund, warum ich jetzt bei meiner Tante residiere. Langfristig aber muss ich in die Burg übersiedeln, deshalb also meine Frage an Sie: wie sollen wir mit der Königinwitwe umgehen?"

Die Männer blickten sich gegenseitig an, allen war klar, daß Erich und Elisabeth nicht unter einem Dach leben konnten. Darüber hatte noch keine Diskussion stattgefunden, daher musste jeder seine Meinung aus dem Stegreif frei äußern. Edelmann, Gregor und auch Oberstleutnant Kunze meinten, die Königinwitwe wäre am besten in Salzburg aufgehoben, das Schloss Mirabell befindet sich inmitten der Stadt, so dass sie sich nicht aufs Abstellgleis geschoben fühlen musste. Salzburg war eine der schönsten Städte des Reiches und bot kulturell und sozial viel. Und Oberstleutnant Kunze ergänzte, dass dort auch für ihre Sicherheit gut gesorgt werden könne.

Zum ersten Mal ergriff Candor das Wort. Er sei dagegen, sagte er, denn so wie er die Königinwitwe einschätze, würde sie sich dort doch aufs Abstellgleis geschoben fühlen. Es sei besser, auf die sehr impulsive Persönlichkeit der Königinwitwe einzugehen. Sie habe immer in der Stadt Wien gewohnt und alle ihre Wurzeln, Freunde und Bekannte, seien hier. Er würde eher empfehlen, dass sie in einem der vielen Palais der Stadt untergebracht werde. Das Königshaus verfüge über mehrere dieser Palais, und man könnte ihr die Wahl überlassen, dies auch im Sinne einer friedlichen und freundlichen Lösung für die Königinwitwe. Aktiv auf sie zugehen und ihr eine Wahl zu bieten wäre jedenfalls besser als eine eventuell als Konfrontation empfundene Order "von oben". Und, setzte Candor hinzu, eine Konfrontation würde wahrscheinlich alle beschädigen.

Er blickte in die Runde, und nach und nach nickten alle zum Einverständnis. Prinz Erich blickte nun auf Meister Candor und fragte: "ist das jetzt einstimmig angenommen?" und Candor nickte, antwortete: "Ja, mein Prinz!"

Dieser lehnte sich zurück, dann lächelte er und sagte: "Es ist wirklich interessant, wie in diesem Kreis Entscheidungen getroffen werden. Aber ich finde, das ist gut so!" Danach bat der Prinz, einer der Anwesenden möge feinfühlig und mit aller gebotenen Vorsicht das Thema bei der Königinwitwe zu evaluieren. Er erwarte eine endgültige Stellungnahme spätestens morgen Abend. Candor dachte bei sich, der Prinz sei einer, der Entscheidungen schnell zu fällen pflegte und der auch keine langwierigen Debatten schätzte. In diesem Sinne hatte der Prinz einen Punkt gewonnen.

Nun meldete sich Baron von Stetten zu Wort. Er sagte, er sei sein Leben lang im Dienst der Könige gewesen und hoffe, nicht zu hoch zu greifen, wenn er behauptete, dass er einer seiner engsten Vertrauten gewesen sei, mit delikaten Aufträgen betraut wie zum Beispiel der Erziehung des Prinzen Ludwig. Nun bitte er den Prinzen, ihm weiterhin zu vertrauen und ihn in Diensten zu behalten. Man konnte dem Prinzen ansehen, dass er sich am liebsten am Kopf gekratzt hätte, doch seine ausgezeichnete Erziehung und der lange Aufenthalt im eher unterkühlten England gewannen die Oberhand.

"Mein lieber Baron," sagte der Prinz mit großer Freundlichkeit, "natürlich bleiben Sie bei mir und erhalten Ihre Aufträge, wann sie sich ergeben." Erneut schien es, als ob der Prinz eine schwierige Klippe umschiffen und sich am Kopf kratzen wolle, bevor er fortsetzte: "Haben Sie bitte Verständnis dafür, dass ich meinen langjährigen Butler, James, mitgenommen habe und dieser nicht nur im engeren Sinn mein Butler, sondern auch mein engster Mitarbeiter im Sinne eines Adjutanten ist. Ich kann nur hoffen, dass Sie mit Mortimer gut zusammenarbeiten werden." Der Baron nickte eifrig und sagte: "Danke, mein Prinz!"

"Ganz allgemein möchte ich festhalten," sagte der Prinz, "Dass ich einige Personen, die mein volles Vertrauen genießen, aus London mitgebracht habe und alles tun werde, damit sie hier bestens integriert werden. Mein Küchenchef Henri, meine Gesellschafterin Prinzessin Claudia, meinen Butler James. Meinen Chauffeur und meine Sportwagen muss ich vermutlich in London lassen, da es hier schwierig bis unmöglich ist, Autos mit Verbrennungsmotor zu unterhalten." Der Prinz machte eine nachdenkliche Pause, dann setzte er fort: "Sowohl König Karl als auch König Franz liebten es, auf ihren Pferden durch die Lobau zu reiten – die wilde Hatz, wie es die Boulevardblätter beschrieben. Ich selbst bin kein besonderer Reiter, dafür aber bin ich als Liebhaber schneller Autos bekannt. Schade, daß ich dieses Hobby hier in meiner Heimat kaum werde ausüben können."

Und das vor allem deswegen, dachte Candor bei sich, weil bei uns das Fahren mit mehr als 0,0 Promille streng bestraft wird. Und außerdem nehme ich das mit der Gesellschafterin Claudia so, wie es ist: sie ist deine letzte Eroberung, dieses hübsche Kind aus Dänemark – das heiße Blut der Pospischil–Könige rinnt auch durch deine Adern! Candor wischte diese Gedanken beiseite. Er war seinerseits froh, wie zugänglich ihm die Gedankenwelt des Prinzen erschien, das würde ihre weitere Zusammenarbeit fördern. Er jedenfalls sah kein Problem darin, dass der Prinz gerne einen guten Tropfen trank und hübschen jungen Mädchen nachjagte. Er war sicher kein Alkoholiker und auch kein Päderast.