Das Erwachen

Das Erwachen

Nun will ich kurz darstellen, wie ich erwachte und wie ich von Leo Puchmann zu Meister Candor wurde.

Mein Erwachen geschah ganz langsam, in mehreren Schritten. Ich erwachte in einem hellen weißen Zimmer, und schlagartig war mir bewusst, dass ich in einem Krankenhaus lag.

An die ersten Wochen kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern, ich war an Schläuche und Elektroden angeschlossen und war nur minutenweise bei Bewusstsein. Meistens aber schlief ich.

Nach einer gewissen Zeit begannen mich die Schwestern zum Aufstehen zu ermuntern, ich war völlig entkräftet, hatte Schmerzen in den Hüften und kaum Muskeln. Ich erhielt ausgezeichnete Mahlzeiten, die Schwestern waren Tag und Nacht um mich bemüht.

Als ich später in der Lage war, aufrecht zu sitzen, begann man mit mir eine Physiotherapie, in der ich gehen, mich bewegen, die Arme verwenden lernte. Zu dieser Zeit begannen auch die Gespräche mit dem behandelnden Arzt, Doktor Fürböck.

Er hatte ja schon seit meinem Erwachen begonnen, mich täglich zweimal zu untersuchen, ordnete verschiedenste Untersuchungen an wie Röntgen, MRT, verschiedenste neurologische Untersuchungen und anderes. Nun setzte er sich täglich einmal zu mir, und ich hatte viele Fragen an ihn.

Wie war ich hierhergekommen? Wann war ich, wie lange war ich im Koma? Er hörte mich geduldig an, dann gab er mir kurze, präzise Antworten.

Er fragte mich, ob ich mich erinnern konnte, dass ich gemeinsam mit seinem Vorgänger, Dr. Giese, dieses Institut gegründet hatte. Ich veneinte, also sagte er, dass ich mit Dr. Giese, mit dem ich seit der Schulzeit persönlich befreundet war, das Institut Giese gegründet habe. Ich hatte einen sehr großen Betrag für die Forschungen investiert und mit ihm einen langfristigen Vertrag gemacht, indem ich 45% stillen Anteil am Institut erwarb und ihm die Fortführung seiner Forschungen mit einem großzügigen, jährlichen Zuschuss ermöglichte.

Er machte eine lange Pause. Dann sagte er: "Sie haben einen schweren Autounfall überlebt, wurden operiert, aber Sie wachten nicht auf, blieben im Koma." Einem Schreiben zufolge konnte Doktor Giese beanspruchen, mich weiter zu pflegen. Da das Institut darauf ausgerichtet war, an der Verlängerung des Lebens zu forschen, hatte mich Doktor Giese im Koma belassen und für meine Pflege die neuesten Ergebnisse seiner Forschung angewendet.

Dr. Giese war der Meinung, dass die Kryomedizin eine Sackgasse war. Er setzte darauf, daß lebensverlängernde Maßnahmen in der Lage waren, Komapatienten über viele Jahre lang am Leben zu erhalten. Das hatte er auch mit mir vor. Nachdem ich nach dem Autounfall erfolgreich an der Hüfte wie auch an vielen gebrochenen Rippen und einer angeknacksten Wirbelsäule operiert wurde, wachte ich trotz intensiver Bemühungen nicht auf, sondern blieb im Koma. Also beließ er mich im künstlichen Koma, senkte meine Körpertemperatur auf zwischen 10 und 20 Grad und sorgte dafür, daß meine Lebensfunktionen verlangsamt, aber völlig intakt blieben. Es war eine Fortführung des Gedankens, daß der Mensch eine Art Winterschlaf haben könne, was auch durch Experimente für die Raumfahrt belegt werden konnte. Allerdings blieben diese Experimente bruchstückhaft, nur Giese schien in der Lage zu sein, die Lebenserhaltung zu perfektionieren.

Dr. Fürböck begann, sehr detailliert und technisch diese Vorgänge zu beschreiben, vornehmlich war das Herabsetzen der Körpertemperatur, die Verlangsamung des Herzschlags auf vierzehn Schläge pro Minute wie auch die Elektrostimulation des Gehirns, des Thymus und anderer Nervenbahnen von großer Bedeutung. Mir wurde es bei diesen detaillierten technischen Angaben richtiggehend schwindelig, ich konnte mich bald nicht mehr an jede Einzelheit erinnern. Aber Dr. Fürböck bestätigte mir, dass Dr. Giese eine ausgezeichnete Arbeit geleistet und mich so am Leben erhalten hatte.

Ungeduldig unterbrach ich ihn und fragte: "Wie lange?" Dr. Fürböck sah mich ernst an, dann sagte er: "Sie haben über 60 Jahre im Koma verbracht."

Mir wurde schwindelig. 60 Jahre! Das heißt ich war jetzt – ich kramte in meinen Erinnerungen – ich war jetzt über 120 Jahre alt! Dr. Fürböck machte eine Pause, denn er merkte, dass ich dies erst verkraften musste. Wir schwiegen lange und dann fragte ich nach meiner Frau – doch mir wurde sofort klar, dass sie seit 60 Jahren tot war. Dr. Fürböck bestätigte, dass meine Frau Helene den Autounfall nicht überlebt habe.

Mir rannen die Tränen über die Wangen, Dr. Fürböck stand auf und ließ mich allein mit meinen Gedanken. 60 Jahre! Und Helene war tot, und alle anderen mit denen ich mein Leben damals geteilt hatte. Helene, meine Elaine, mit der ich noch "gestern" gesprochen hatte....

An den folgenden Tagen sprachen wir immer wieder darüber, den ich wollte mehr darüber wissen, wie ich diese Zeit überstehen konnte. Dr Giese hatte während dieser Zeit seine Forschung im Geheimen bzw. völlig zurückgezogen geführt, nur die engsten Mitarbeiter wussten, woran er arbeitete. Er veröffentlichte über 100 Publikationen zu seinem Thema, jedoch niemals aus der Sicht des Forschenden, der seine Ergebnisse bekannt geben wollte, sondern fasste klugerweise seine Hinweise immer in Fragen zur Fortführung und Verlängerung von Leben an sich. Leider war Doktor Giese vor fünf Jahren im Alter von über 90 Jahren gestorben, und er, Fürnböck, hatte als sein engster Assistent seine Nachfolge angetreten.

Dr. Fürnböck war sehr bemüht, mich aus dieser Niedergeschlagenheit herauszuholen und erklärte mir, daß ich rein körperlich dank der einzigartigen Behandlung körperlich kaum zwei Jahre gealtert war, demnach etwa einem Alter von 58 oder 60 entsprach. Zum Zeitpunkt des Autounfalls war ich 58 Jahre alt. Er machte mir auch klar, daß ich zwar zur Zeit noch auf Krücken ging oder im Rollstuhl geschoben wurde, aber bei erfolgreicher Weiterführung der Physiotherapie und geduldigem Training bald wieder selbständig gehen und vollständig wiederhergestellt sein werde.

Die folgenden Tage verbrachte ich in tiefer Trauer. Für mich war es, als ob ich Elaine gestern verloren hätte, in Wirklichkeit war sie schon vor 60 Jahren gegangen. Ich wußte überhaupt nicht mehr, worüber wir gestritten hatten, warum sie sich betrunken und wütend ans Steuer gesetzt hatte und wir beide uns nicht angeschnallt hatten. Jedenfalls verunglückten wir auf der Höhenstraße. Ich war für meine Umwelt überhaupt nicht mehr ansprechbar, wiederwillig ließ ich mich zur Physiotherapie oder zu kleinen, vorsichtigen Spaziergängen führen. Ansonsten aber verließ ich mein Zimmer nicht, blickte aus dem Fenster und dachte voller Trauer und Schmerzen an sie. Der Ausblick auf den Park und der an die Scheiben trommelnde Regen ließen mich sehr schwermütig werden.

Dr. Fürböck ließ nicht locker. Täglich besuchte und untersuchte er mich, insbesondere fiel mir auf, daß er sich stark auf die neurologischen Untersuchungen konzentrierte. Eine Tages fragte ich ihn, wieso er dies tat, doch er ließ mich mit der einfachen Antwort zurück, daß dies reine Routine sei. Ich konnte es fast körperlich spüren, daß er mir etwas verheimlichte. Es war in der Tat so, daß ich zu meiner eigenen Verwunderung oft das Gefühl hatte, die Emotionen meines Gegenübers ganz klar und deutlich zu "spüren". Manchmal konnte ich geradezu hellseherisch in deren Gedanken lesen, und dies, obwohl ich mein Leben lang streng naturwissenschaftlich orientiert war und an so einen Firlefanz nicht glaubte.

Dennoch, etwas mußte an diesem Firlefanz dran sein, denn im fünften Monat meines Aufenthalts im Institut wurde mir eine neue Krankenschwester, Brigitte, zugeteilt. Vom ersten Tag an las ich ihre Signale, "sah" ich geradezu bildlich, wie sehr sie sich zu mir hingezogen fühlte, ich konnte in ihren Gedanken lesen und nach eingen Tagen spürte ich, wie sehr sie sich nach Intimität sehnte. Tatsächlich hatten wir bald einvernehmlich Sex, obwohl ich sie kaum kannte und auch keine Anzeichen dafür fand, daß sie mir einmal mehr bedeuten konnte. Sie war von einfachem Gemüt und unsere kurze Affäre war nicht mehr als körperliche Entspannung. Erst nach einigen Wochen entdeckte ich, daß sie Dr. Fürböck von unseren heimlichen Treffs getreulich und mit allen Details berichtete, was er mir gegenüber natürlich nie erwähnte. Dieser kleine Schlaumeier, dachte ich und beendete die Affäre mit Brigitte recht bald. Irgendwie ärgerte es mich, auf diese Art medizinisch examiniert zu werden.

Gegenüber Dr. Fürböck erwähnte ich mit keinem Wort mein neues, quasi hellseherisches Talent. Ich sprach ihn jedoch immer wieder auf die häufigen neurologischen Untersuchungen an, denn es war doch auffällig, wie oft er mich zum MRT schickte.

Nach einigen Versuchen meinerseits gab Dr. Fürböck widerstrebend zu, dass er untersuchte, wie sehr sich meine Gehirnaktivität bzw die Menge der Areale, die ich nutzen konnte, gestiegen waren. Er sagte, dass es ihn sehr erstaunte, dass ich zwischen 35 bis 50% meines Gehirnvolumens verwenden würde, das sei höher als die durchschnittlichen 15 bis 25%. Er hatte keine Erklärung dafür, außer der Vermutung, dass eventuell die 60 Jahre lang anhaltende Stimulation meines Gehirns das verursacht haben könnte.

Ich behielt meine Gedanken dazu für mich, obwohl es sehr verlockend war, ihm von meinen neuen Talenten zu berichten. So vergingen die Tage, nach zirka zwei Monaten konnte ich mit Krücken gehen, später brauchte ich nur mehr einen Gehstock. Dann kam der Tag, an dem mir Dr. Fürböck eröffnete, dass mich die Rechtsanwaltskanzlei Roma und Partner zu sprechen wünschten. Roma und Partner hatten meine geschäftlichen Angelegenheiten während all dieser Zeit wahrgenommen, nun wollten sie vermutlich den neuen alten Leo sprechen.

Die beiden jungen Herrn, die anderntags erschienen und sich mit mir und Dr. Fürböck im Konferenzraum trafen, waren viel zu jung, als dass ich sie kennen konnte. Dennoch erwiesen sie sich als kompetent und wussten über jedes Detail Bescheid. Sie hatten einen ganzen Stapel Papier mitgebracht und legten mir diese vor, es waren zunächst die Berichte über die Zeit, die ich im Institut verbracht hatte und sich die Kanzlei in regelmäßigen Abständen vom Fortgang überzeugten. Die Korrespondenz mit Dr. Giese gab darüber Aufschluss, dass es mir gut ging und dass die Kanzlei jährlich von ihm mit der Fortführung all meiner Geschäfte beauftragt wurde. Er hatte auch die jährlichen Honorare der Kanzlei gegengezeichnet.

Dann legten sie mir einen Bericht über meinen Vermögensstand dar, und im ersten Moment erfasste mich ein heftiger Schwindel, den ich war tatsächlich reich. Ich besaß mehrere Häuser in guter Lage, meine letzte Wohnung war eine sehr geräumige Halbetage im Palais Harrach auf der Freyung. Das Palais gehörte offenbar mir, ich konnte mich aber überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie ich es erworben hatte. Die beiden jungen Herren lasen mir die Ergebnisse der Einkünfte aus den Immobilien vor. Dann berichteten sie, dass sich meine riesigen Aktienpakete in 60 Jahren ausgezeichnet entwickelt hatten und ich außerordentlich gute Einkünfte daraus bezog. Zuletzt legten sie mir Bestätigungen vor, daß meine Steuern pünktlich und akkurat entrichtet worden waren. Zuletzt legten sie einen Bericht über die Honorare von Roma und Partner vor, welche ich nur kurz überflog und nickte, denn billig waren sie nicht, aber vermutlich hatte ich es vor über 60 Jahren so mit ihnen ausgehandelt. Ich lehnte mich zurück und ließ mir diese neuen Ergebnisse durch den Kopf gehen.

Nach einer Pause räusperte sich einer der beiden Herren und sagte, dass es wohl notwendig sei, dass ich eine neue Identität erhielte. Vorausschauend hatten sie gedacht, dass ich meinen Namen behalten wollte, aber ich würde eine völlig neue Legende und auch neue Urkunden und Dokumente brauchen. Sie hatten das schon vorbereitet und legten diese vor. Tatsächlich war das gut durchdacht, ich erhielt zum Beispiel eine Geburtsurkunde, die mein jetziges Alter in etwa bestätigte, Schulzeugnisse und diverse andere Dokumente, die dieses neue Leben bestätigten. Es lag nun an mir, zu entscheiden, ob ich dies annehmen wollte. Nach kurzem Nachdenken stimmte ich zu und unterschrieb alle hierzu notwendigen Papiere.

Leo Puchmann war zu Leo Puchmann geworden. Ich gab den Herren den Auftrag, mir ein neues laufendes Konto bei meiner Bank, der Austro Invest Bank, einzurichten und dieses Konto bei Abgängen laufend aufzufüllen. Über dieses Konto wollte ich den Alltag bestreiten, mein Vermögen sollte wie bisher von Roma und Partner verwaltet werden. Wir schlossen eine zweijährige Verlängerung dieses Vertrages ab.

Als die Herren gegangen waren, blieb ich noch kurz mit Doktor Fürböck sitzen. Ich dankte ihm für die außerordentlich gute Betreuung, die er und Dr. Giese mit Roma und Partner für mich gemacht hatten. Dann unterhielten wir uns angeregt darüber, wie ich seine weitere Forschungsarbeit und das Institut unterstützen konnte. Er war sehr erfreut, als ich ihm sagte, dass die jährliche Unterstützung um 10% erhöht und indexgebunden weiterlaufen würde. Ich war dem Institut dankbar, dass sie mein Leben gerettet und mich in diesem neuen Leben auferstehen ließen. Er war sehr erleichtert und dankte mir.

Ab diesem Tag war all meine Traurigkeit verflogen. Ich begann, mich über mein früheres Leben zu informieren, begann aber auch, mich um meine Wohnung zu kümmern. Auf Anraten Dr. Fürböcks lud ich einen Baumeister ein, dem er sehr vertraute und den ich mit den Arbeiten an der Wohnung beauftragen wollte. Ich wollte eine gründliche Sanierung, eine neue Einrichtung nach aktuellem Stand und ließ mir ein Angebot geben. Nach kaum einer Woche hatte ich dieses und beauftragte den Baumeister mit der Ausführung dieser Arbeiten.

Ich fuhr mehrere Male mit dem Taxi in die Innenstadt und besah mir die alte Wohnung. Sie lag im ersten Stock des Palais Harrach, war aber völlig verstaubt und mit altem Mobiliar gefüllt. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass ich dort gewohnt hatte, aber es gab mir einen Stich, wenn ich ein Möbelstück betrachtete und dieses mich an Elaine erinnerte. Nein, das mußte alles weg, alles musste neu eingerichtet werden.

Nach einem dieser Besuche, als ich in das Institut zurückgekehrt war, hatte ich das erste Mal eine Vision. Ja, eine Vision, denn ich war mir sicher, dass ich etwas nicht Reales sah. Ich hatte mich kaum auf einen Stuhl gesetzt und ein Glas Limonade getrunken, als meine Gedanken abschweiften und ich sie plötzlich in der Ecke des Zimmers sah. Es war Elaine, ganz ohne Zweifel. Doch gleichzeitig erkannte ich, dass dies nur ein Gesicht war. Wir sahen uns lange an, sie lächelte und ich sagte: "Meine liebe, liebe Elaine!" Ich bemerkte nur am Rande, dass mir die Tränen die Wangen hinunterliefen. Es dauerte vielleicht einige Minuten, vielleicht aber auch nur einige Sekunden, dann war sie wieder verschwunden. Ich blieb unbeweglich sitzen und dachte nach.

Es konnte nicht sein! Doch andererseits war die Vision so klar und so deutlich, dass ich es für wahr halten musste. Nun saß ich häufiger beim Tisch und ließ meinen Gedanken freien Lauf, doch es dauerte mehrere Tage, bis sie wieder erschien. Ich konnte sie deutlicher als das erste Mal sehen, sie hatte jenes bezaubernde Kleid an, das sie in Griechenland auf unserer Hochzeitsreise getragen hatte – ein dünnes, durchsichtiges weißes Kleid, unter dem sie nichts trug. Ich betrachtete sie und lächelte, denn sie hatte in Griechenland in diesem Kleid hinter unserem Haus auf der Wiese getanzt, fröhlich und ausgelassen jauchzend.

Elaine war wieder die junge, wunderschöne Frau, die mich geheiratet hatte. Keine Spur ihres Alters, das wunderschöne braune lockige Haar umrahmte ihr Gesicht, das mich anlächelte. So unwirklich dies auch war, ich sprach sie an und sagte, wie sehr ich sie liebte. Sie lächelte zurück, ihr wunderbares Lächeln, und sie sagte, dass sie mich auch liebte. Ich fragte, wie es ihr gehe, und sie antwortete, es sei wunderbar hier, in Griechenland, es sei doch wunderschön!

Ich war davon überzeugt, dass sie ein Produkt meiner Erinnerungen war, denn die Zeit, die sie erwähnte, war sicher schon 80 oder 90 Jahre her, unsere Hochzeitsreise nach Griechenland. Dennoch wollte ich sie und ihre Anwesenheit solange wie möglich aufrecht erhalten. Als ich meine Hand ausstrecken und sie zu berühren versuchte, spürte ich nichts – sie musste wirklich eine Projektion meines Hirns sein.

Ich entschloss mich, so zu tun, als ob wir immer noch auf Hochzeitsreise wären. Unsere Unterhaltung drehte sich um Liebe, um körperliche Empfindungen und immer wieder sagten wir uns, wie sehr wir uns liebten. Nach einiger Zeit wurde sie jedoch ernst und sagte: "Ich muss dich warnen, mein Lieber, es wird in drei Tagen eine Steinlawine bei Landeck niedergehen und den Zugverkehr behindern. Hoffentlich kannst du etwas dagegen unternehmen, dass keine Menschen zu Schaden kommen." Sie sah mich noch eine Weile an, doch ihr Bild verblasste.

Ich saß noch eine Weile da und war benommen von der Macht, die von dieser Vision ausging. Dann aber fasste ich einen Entschluss und ging zu Doktor Fürböck. Ich berichtete ihm, dass ich ganz plötzlich von dem Gedanken besessen war, es könne in den nächsten Tagen, genauer in drei Tagen, zu einem Unglück kommen und ich die Pflicht verspüre, die Bahngesellschaft zu informieren. Dr. Fürböck war zunächst äußerst skeptisch und versuchte herauszubekommen, wie ich auf diese Idee kam und wie ernst er das nehmen müsse. Natürlich sagte ich kein Wort über meinen Kontakt zu Elaine, bestand jedoch darauf, die Bahn zu verständigen. Er war nicht wirklich überzeugt, also sagte ich, ich würde selbst bei der Bahn anrufen.

So begleite ich ihn in sein Büro, in dem es noch ein altmodisches Telefon gab, und rief die Bahngesellschaft an, nachdem er mir die Nummer herausgesucht hatte. Als ich endlich jemanden an in der Leitung hatte, wurde ich von Amt zu Amt weitergereicht bis zum Büro des Regionaldirektors, wo ich meinen Verdacht deponierte. Man versuchte mich auszufragen und herauszubekommen, ob ich vielleicht selbst jemand sein könnte, der einen Anschlag auf die Bahn vor hatte. Ich gab aber sowohl meine Personalien als auch meinen Aufenthaltsort im Institut an und sagte, dass dies kein Attentat, sondern ein natürliches Ereignis wäre, vermutlich ein Felssturz. Man solle bitte eventuelle Vorkehrungen treffen. Man war mir gegenüber höflich und bedankte sich. Dr. Fürböck, der über Lautsprecher mitgehört hatte, schüttelte den Kopf, als ich aufgelegt hatte und brummte: "Die werden das unter der Rubrik >Bekloppte< ablegen."

Wie groß aber war sein Erstaunen, als die Bahn drei Tage später direkt bei ihm anrief und ihm mitteilte, dass man vorsorglich die Bahnstrecke von Landeck westwärts wegen technischer Maßnahmen kurzzeitig stillgelegt habe. Und, so hieß es weiter, es hätte tatsächlich einen gewaltigen Felssturz gegeben, der die Schienen verlegt habe – es wäre wohl ein großes Unglück mit vielen Toten gewesen, hätte man die Strecke nicht vorsorglich gesperrt. Der Typ von der königlichen Bahngesellschaft ließ durchblicken, dass er sich sehr über diese Warnung gewundert habe, ob Dr. Fürböck eventuell näher darauf eingehen könnte? Dieser konnte jedoch nichts sagen und beendete höflich das Gespräch.

Natürlich sprachen wir noch tagelang darüber. Ich gab nicht nach und gab meine Quelle nicht Preis, ich bestand darauf, dass es sich nur um ein Gefühl, ein sehr starkes Gefühl allerdings, gehandelt habe. Für Dr. Fürböck war dies alles unerklärlich und verunsicherte ihn nachhaltig.

Ich habe tagelang nachgedacht, wie es denn sein konnte, dass Elaine, deren Vision ja nur meinen eigenen Gehirn entsprungen sein mußte, so etwas im Voraus wissen konnte. Ich fand aber trotz heftigen Nachdenkens keine Antwort. Wie ich es auch drehte und wendete, es blieb dabei, dass mein naturwissenschaftlich orientierter Verstand keine Antwort hatte und ich nicht in der Lage war, mir selbst eine vernünftige Erklärung zu geben.

Inzwischen waren die Arbeiten in meiner Wohnung weitergegangen, ich fuhr nun beinahe täglich mit dem Taxi in die Stadt, um den Fortgang zu beurteilen. Der Baumeister hatte nicht zu viel versprochen. Die Böden waren neu verlegt, die Wände frisch geputzt und gestrichen, die Einrichtung eher modern. Meinem Wunsch entsprechend gab es einen großen Wohnraum, 6 kleine Zimmer und eine gut ausgestattete Küche, die selbstständig kochen konnte. Wozu es ein zweites Badezimmer gab konnte ich nicht herausfinden, ließ es aber dabei bewenden. Die Möbel hatte ich selbst ausgesucht, sie waren vor allem gediegen und dennoch elegant. Ich wollte auch in den Gästezimmern die besten Betten, gut gepolsterte Sitzmöbel und hohe, bis zum Boden reichende dunkle Vorhänge. Der Baumeister versprach, dass es in spätestens acht Wochen schlüsselfertig zu beziehen sei.

Während meiner Besuche zur Besichtigung der Wohnung fand ich schnell heraus, dass in derselben Etage, in einem Bereich der doppelt so groß wie meine Wohnung war, eine gewisse Madame Veronique ein Etablissement der besonderen Art führte. Nach außen völlig unscheinbar war es in Wirklichkeit, das konnte ich nicht übersehen, ein Etablissement der gehobenen Art. Madame Veronique war eine hübsche Dame mittleren Alters und war sehr freundlich. Wir begrüßten uns als Nachbarn, und sie lud mich ein, das Etablissement zu besichtigen. Wir unterhielten uns sehr angeregt, sie servierte Brötchen und einen ausgezeichneten Tee. Schon bald lud sie mich zu einem Abendessen ein und ich konnte feststellen, dass sie eine ausgezeichnete Küche hatte. Ihr vorsichtig formuliertes Angebot, mich zum Besuch des Etablissements zu bewegen, brachte mich in die unangenehme Lage, es zurückzuweisen. Doch entgegen meinen Befürchtungen nickte sie nur verständnisvoll und sagte, das sei schon okay so. Ich war sehr erleichtert, denn mit Nachbarn sollte man immer auf freundlichem Fuß stehen. Es wurde nun beinahe eine Gewohnheit, dass ich abends mit ihr gemeinsam speiste. Ich bestand aber darauf, für das Essen zu bezahlen, was sie nach kurzem Zögern auch annahm.

Beim gemeinsamen Abendessen plauderten wir über dies und das, und langsam erfuhren wir einiges über den anderen. Sie fand es interessant, dass ich durch Immobilien und Aktien zu einem kleinen Vermögen gekommen war und sagte mehrmals, wie sehr sie sich über diese Nachbarschaft freute. Ich verschwieg ihr sehr lange, daß das Palais eigentlich mir gehörte und die Vermietung einer Hausverwaltung oblag. Ich hingegen erfuhr, dass sie aus Südosteuropa eingewandert war und nach einigen Jahren ihr Etablissement eröffnet hatte. Dieses war sehr edel im Retro–Stil des 19. Jahrhunderts eingerichtet, mit weichen Teppichen ausgelegt und mit roten Stofftapeten ausgestaltet. Diese Mädchen waren ausnahmslos erstklassig wie auch ihre Kunden, die aus den höchsten Kreisen des Königreichs kamen. Und, betonte sie immer wieder, Diskretion sei für sie absolut wichtig und unabdingbar. Und natürlich stellte sie von Anfang an klar, daß es kein Puff oder Bordell sei, sondern ein Salon. Mein Lächeln akzeptierte sie mit einem unmerklichen Schmunzeln.

Ich hatte mich inzwischen aus dem Institut verabschiedet und bezog meine Wohnung im Palais Harrach. Der Baumeister zeigte mir die gesamte Wohnung mit allen Einzelheiten, alle Möbel und alle eingebauten Finessen. Bei der Erklärung der Küche musste ich passen, denn ich war es nicht gewohnt zu kochen und sagte ihm, es wäre sicher alles in Ordnung und ich würde mir bei Gelegenheit die Details näher ansehen. Zum Ende der Führung blitzen seine Augen kurz auf, als er sagte, das feinste Zuckerl habe er sich zum Schluss aufgehoben. Er sagte "Lucy!", und eine weiche Frauenstimme antwortete aus versteckten Lautsprechern: "Was kann ich für Euch tun?" Der Baumeister sah mein Erstaunen und sagte: "Das ist der augenblicklich modernste Haushaltsroboter" und fügte hinzu, dass diese auf mich bzw. meine Stimme trainiert sei und jegliche Tätigkeit im Haushalt bzw. jeden Befehl wie Lichtsteuerung, Musiksteuerung, die Küche und Ähnliches beherrsche. Man könne mit Lucy wie mit einem Hausangestellten kommunizieren.

Ich bekam Bedenken, denn schon in meinem alten Leben habe ich mich von all den neumodischen sozialen Medien wie auch sogenannten smart Things skeptisch distanziert und fühlte jetzt, dass mir dieser Hausroboter nicht geheuer sei. Trotzdem ließ ich mir vom Baumeister alle Details erklären und notierte die wichtigsten Befehle in meinem kleinen Notizbuch. Dann sagte ich: "Lucy, schalte dich ab!" Ein leiser, kaum hörbarer Piepton kam zur Bestätigung. Lucy ließ sich wieder einschalten und der Baumeister gab mir den Hinweis, mir von Lucy all ihre Funktionen erklären zu lassen. Lucy sei das derzeit Modernste, was man derzeit für Geld bekommt. Dann setzte ich mich mit dem Baumeister zum Schreibtisch und wir gingen noch einmal die endgültige Abrechnung durch, wir hakten jeden Posten einzeln ab und am Schluss unterschrieb ich, dass alles seine Richtigkeit habe. Zum Ende sagte ich dem Baumeister, dass ich seine Rechnung noch am selben Tag begleichen würde und dankte ihm für diese ausgezeichnet gelungenen Arbeiten an meiner Wohnung.

Natürlich ging ich gleich zu Veronique hinüber und bat sie, die neu eingerichtete Wohnung zu besichtigen. Sie kam, besah sich alles genau und meinte dann, dass es wirklich sehr schön sei. In der Küche gab sie einen kleinen anerkennenden Pfiff von sich, so gut gefiel ihr deren Einrichtung, die blitzenden Pfannen, das edle Geschirr und die schönen, sicher teuren Geräte. Das ist eine autonome Küche, versicherte sie, sie habe es in einigen Magazinen gesehen, aber sie koste ein Vermögen. Ich aber ging wieder zurück in den großen Wohnraum, auf dessen Einrichtung ich selbst stolz war. Es hatte neben einem großen, aus einer versenkten Halterung hochfahrbaren Fernseher, einen großen altmodischen Schreibtisch mit einem Retro Telefon und einem Retro Bildschirm, die heute sicherlich kaum mehr woanders Verwendung fanden. Ich aber fand, dass ich auf einem großen Bildschirm meine Nachrichten und meine Arbeiten besser erledigen konnte, als nur mit dem Com, welcher zwar immer präsent, aber nur begrenzte Möglichkeiten für die Anzeigen bot. Selbstverständlich verbanden sich das Com und der Bildschirm automatisch (was mich daran erinnerte, daß man dies zu "meiner Zeit" Bluetooth nannte).

Nun begann ich, meine Wohnung nach meinem Geschmack weiter einzurichten. Die wertvollen Teppiche der alten Einrichtung hatte ich reinigen lassen, nun wurden sie auf allen Böden ausgelegt. Abends ging ich regelmäßig zu Veronique und fragte eines Abends, wer die junge Dame sei, die manchmal die Speisen auftrug, zumeist aber im Hintergrund blieb. Sie stellte uns vor, Leo und Roxane. Sie war die Witwe von Veroniques Bruder Gregori, der in den Bürgerkriegswirren in Rumänien ums Leben gekommen war. Veronique hatte sie sofort nach Wien geholt, ebenso ihren achtjährigen Sohn Marco. Da mir Roxane vom ersten Tag an sehr gut gefiel, bat ich Veronique, Roxane möchte doch an unseren Abendessen teilnehmen.

Bei diesen Abendessen unterhielten wir uns vor allem über die kleinen Probleme des Alltags, ich aber nutzte die Zeit, um mehr über Roxane zu erfahren. Ich betrachtete immer wieder Roxanes Körper und fand sie sehr hübsch, gleichzeitig schalt ich mich einen alten chauvinistischen Esel, der sich an ihrem hübschen Aussehen ergötzte. Dennoch bildete ich mir ein, daß sie sich bald sehr körperbetont anzog und meine Blicke offenbar genoß. Sie war sehr bescheiden, versuchte in Veroniques Privathaushalt fleißig mitzuhelfen und kümmerte sich ansonsten nicht um das Etablissement, das sie offenbar nicht sehr schätzte. Natürlich kam es für sie nicht in Frage, für Veronique im Etablissement zu arbeiten, was Veronique mit einem leisen Lächeln quittierte. In einem leichten Anflug von Eifersucht stellte ich mir vor, wie dieses herzige Kind wohl in einem Puff verkommen würde.

Für Roxane war Marco das Zentrum ihres Lebens, sie lernte täglich mit ihm und kümmerte sich darum, dass er fleißig und aufmerksam lernte und besprach auch zwischenmenschliche Probleme mit ihm, da ihn seine Mitschüler wegen seiner Herkunft oft ärgerten. Alles in allem kam sie mir sehr lieb und herzensgut vor, ich ertappte mich dabei, dass ich häufig an sie dachte und wunderte mich, ob ich denn in sie verliebt sei. Bei unserem gemeinsamen Abendessen tauschten wir oft lange Blicke, ich stöberte und suchte in ihren Gedanken und fand, dass auch sie mich von Tag zu Tag interessanter und anziehend fand.

Nun lud ich sie manchmal in meine Wohnung ein, ich versuchte ihr Kaffee anzubieten, scheiterte aber an der Kaffeemaschine. Lächelnd stand sie auf und befahl Lucy, uns Kaffee zuzubereiten, dann saßen wir in den bequemen Sesseln der Sitzgruppe und unterhielten uns. Sie erzählte von ihrer Jugend und ihrem Gregori, den sie von Kindesbeinen an gekannt und recht jung geheiratet hatte.

Stockend berichtete sie, wie Gregori eines Abends blutüberströmt nach Hause kam. Er stammelte, daß er in eine Auseinandersetzung zweier verfeindeter Clans geraten und angeschossen worden war, obwohl er nichts mit ihnen zu tun hatte und sofort Deckung gesucht hatte. Sie hielt weinend seinen Kopf in ihrem Schoß, immer wieder stammelten sie beide ihre Namen, bis Gregori immer stiller wurde. Als der Notarzt endlich kam, konnte er nur noch den Tod Gregoris feststellen. Wenige Tage später wurde Gregori beerdigt, sie packte schweigend ihre Habseligkeiten und fuhr mit Marco nach Wien, zu Veronique.

An einem dieser Nachmittage geschah es dann. Wir hatten uns lang unterhalten, die Hände berührten sich, ihr Kopf lehnte an meiner Schulter und ich spürte ihre freudige Erregung. Die Lippen berührten sich zu einem langen, innigen Kuss und an diesem Nachmittag wurden wir ein Paar. Erschöpft, aber sehr glücklich lagen wir noch lange schweigend nebeneinander. Ich setzte mich auf und rauchte, zum ersten Mal seit 60 Jahren.

Vor Veronique konnten wir nichts geheimhalten. Sie blickte beim Abendessen schweigend von einem zum anderen, dann sagte sie: "Roxane ist meine einzige Verwandte, bitte gehe gut mit ihr um und verletze sie nicht!" Ich nickte zustimmend und versprach es ihr. Das Abendessen verlief weitgehend in Schweigen, und bevor ich mich verabschiedete, nahm ich Roxanes Hände und blickte ihr in die Augen: "Bitte, übersiedle zu mir, wohne bei mir!" Roxane blickte zu Veronique, und als diese nickte, sagte sie: "Ich komme gerne zu dir, Leo!" Und so kam es, dass wir zu dritt – Roxane, Marco und ich – in meiner Wohnung zusammenlebten.

Roxane war eine ausgezeichnete Köchin, sie konnte mit den automatisierten Vorgängen der hochmodernen Küche gemeinsam mit Lucy vom ersten Tag an umgehen und zaubern, wie ich es verstand. So luden wir Veronique immer öfter zu uns zum Abendessen ein. Sie kümmerte sich nun um beide Haushalte – meinem und Veroniques – und kochte mal hier, mal bei Veronique. Marco hatte sich am Anfang zurückhaltend gezeigt, er empfand die Vertrautheit zwischen Roxane und mir als etwas, das ihn verstörte. Doch ich zeigte mich dem Jungen gegenüber von meiner freundlichsten Seite, übernahm nun häufig das gemeinsame Lernen und allmählich verlor sich sein Widerstand. Er hatte nun sein eigenes Zimmer, zum ersten Mal in seinem Leben konnte er sich dort einrichten, wie er wollte. Ich glaube, dies war für uns alle drei eine wunderbare Zeit.

Zögernd und voller Unsicherheit erzählte ich Roxane von meiner Vergangenheit. Nach und nach gab ich ihr zu verstehen, dass ich durch ein medizinisches Experiment einen langen Teil meines Lebens im Koma verbracht hatte. Als ich sagte, das dieses Experiment 60 Jahre gedauert hatte, merkte ich, wie sie rechnete und ihre Augen sich weiteten. Ich setzte hinzu, dass ich unter normalen Umständen etwa 120 Jahre alt wäre, aber dass ich während dieses Komas kaum gealtert sei und jetzt nur etwa 60 Jahre alt war. Roxane blickte mich lange schweigend an, dann sagte sie: "Ich bin 34". Ganz scheu fügte sie hinzu, daß sich meine Sexualität viel jünger anfühlte. Du meinst mein Glied, sagte ich und sie war unsicher, denn diese Dinge konnte sie nicht benennen. Nach einem kurzen Unterricht in Sachen Geschlechtsteile wurde sie zwar puterrot, aber dann nickte sie eifrig, "Ja, dein Schwanz! Er fickt prima!" Sie lernte sehr schnell. Doch dann erwachte ihre Neugier, sie wollte alles ganz genau wissen und ich erzählte ihr alles, was ich noch wusste.

Ich konnte ihr erzählen, dass ich nach dem Abitur in eine Banklehre gegangen war und dort auf das Börsengeschäft spezialisiert hatte. Durch geschickte Geldanlage war es mir gelungen, mehrere Häuser in der Innenstadt zu erwerben, von diesen Mieteinnahmen zu leben und dass ich viel Geld in Aktienpaketen angelegt hatte. Mit einem gewissen Stolz sagte ich, dass ich dadurch reich geworden sei und in Zukunft keine Sorgen finanzieller Natur haben müsste.

Ich hatte wieder ein Familienleben, ich hatte eine Geliebte und einen Stiefsohn. Wir wurden zu einer engen Gemeinschaft, unterstützten uns gegenseitig und pflegten einen liebevollen Umgang miteinander. Ich sah Marco zum ersten Mal seit langer Zeit wieder lachen, und wenn Roxane und ich abends bei einem Glas Wein beisammen saßen, erlebte ich, wie sie langsam aufblühte und zuversichtlich in die Zukunft sah.

Es dauerte mehrere Wochen, bis ich Roxane von Elaine erzählte. Sie war nicht überrascht, dass ich früher verheiratet war, und wollte vor allem wissen, ob wir Kinder gehabt hatten, was ich verneinte. Es fiel mir sehr schwer, über den Autounfall zu sprechen. Ich wusste doch selbst sehr wenig darüber, nur dass ich mit Elaine verunglückt war. Es widerstrebte mir zu sagen, dass Elaine betrunken gefahren war. Ich berichtete nur, dass sie dabei gestorben und ich schwer verletzt war. Ich wechselte rasch das Thema, denn ich wollte nicht mehr daran denken.

Den schwersten Brocken hob ich mir lange auf. An einem Abend war die Stimmung sehr gut, und wir verstanden uns bestens. Da berichtete ich ihr, dass ich manchmal Visionen hätte. Roxane schien nicht erstaunt zu sein und meinte, dies sei in ihrer Kultur ganz normal. Dadurch wurde ich ermuntert, ihr zu erzählen, dass ich in diesen Visionen Kontakt mit Elaine habe und dass sie mir manchmal Dinge, die die Zukunft betreffen, sagte.

Roxane schwieg lange. Dann fragte sie mich, ob ich Elaine immer noch liebte. Ich überlegte lange, was ich antworten sollte. Doch schlussendlich sagte ich nur: "Ja!" Dann setzte ich fort: "Ich glaube, das ist so ähnlich wie zwischen dir und Gregori. Ich spüre, dass du ihn niemals vergessen wirst und finde es völlig in Ordnung, dass du ihn weiter liebst."

In dieser Nacht gingen wir still zu Bett, wir hielten uns eng umschlungen und sprachen kein Wort, bis wir einschliefen.

Nun verstand Roxane besser, warum mich manchmal ganze Nachmittage schweigend in meinem Wohnzimmer verbrachte. Die Visionen, in denen Elaine erschien, wurden seltener. Aber ich erhielt immer wieder Hinweise, wenn sich irgendwo ein Unglück anbahnte. Ich wandte mich immer öfter an die entsprechenden Stellen, manchmal sogar in der Burg, und berichtete, was ich von Elaine gehört hatte. Meist gaben sich die Behörden wortkarg, aber sie gaben dennoch meine Informationen weiter und so konnten einige Unglücke verhindert werden.

Ich erinnere mich noch an eine große, weitläufige Überschwemmung im Norden Österreichs und in Deutschland, wo aufgrund meiner Information rechtzeitig Vorkehrungen getroffen werden konnten. Ebenso konnte man einen großen Waldbrand in Frankreich verhindern, was mir bestätigte, dass meine Visionen eine wichtige Aufgabe waren. Es gab aber auch Rückschläge, wie zum Beispiel ein Tsunami, der Spaniens Ostküste verheerte. Das Außenministerium hatte meine Angaben weitergegeben, doch die Spanier ignorierten sie und erlebten ein nicht vorhersehbares Erdbeben mit einem nachfolgenden Tsunami, das mehrere Hundert Leben forderte.

Einige Tage danach erhielt ich einen Anruf über mein Com, es war die Kanzlei in der Burg. Die Frauenstimme am anderen Ende teilte mir mit, dass der König mich zu sehen wünschte. Ob es mir recht wäre, morgen am frühen Nachmittag vielleicht um 1 Uhr zum König zu kommen. Leicht verwirrt bestätigte ich jedoch den Termin sofort. Dann besprach ich es mit Roxane, denn wir hatten beide keine Idee, warum der König mich sehen wollte.

Anderntags zog ich meine besten Kleider an und ging in die nahe gelegene Burg. Die Wachen durchsuchten mich nach versteckten Waffen, dann wurde ich weitergeschickt. Ich klopfte an und trat in die Kanzlei ein, ein junger Mann fragte: "Herr Puchmann?" und als ich bestätigte, bat er mich, ihm zu folgen. Wir gingen ein Stockwerk höher, und ich wurde in ein sehr schön ausgestattetes Zimmer gebracht, wo ich warten sollte.

Nach einigen Minuten ging die Tür auf, ich sprang auf und sah König Karl zum ersten Mal persönlich. Er begrüßte mich sehr freundlich und bat, ich möge Platz nehmen. Ich betrachtete den König, während er noch kurz in ein Papier vertieft war. Er war groß gewachsen und sah für seine 75 Jahre sehr gut und sportlich aus. Sein langes, graues Haar umrahmte ein freundliches, aber entschlossenes Gesicht. Seine Kleidung war elegant und betonte seine schlanke Figur. Dann sah er von den Papieren auf und blickte mir direkt ins Gesicht.

"Ich höre, dass Sie uns sehr oft behilflich waren. Können Sie mir dazu mehr sagen?" Ich war perplex und dachte nach, wie viel ich dem König – meinem König – sagen konnte. Er sah meine Unentschlossenheit und meinte, was immer ich ihm sagte, er könne es für sich behalten.

Ich gab mir einen Ruck und sagte ihm, dass ich so eine Art Gesicht habe, dass ich manchmal Visionen für die nahe Zukunft hatte, wobei ich ihm sofort auch meine Zweifel, die ich hatte, sagte. Ich blickte ihm gerade in die Augen und sagte, dass ich naturwissenschaftlich erzogen worden war und es mir selbst sehr schwer fiele, solch eine außergewöhnliche Gabe für wahr zu halten, doch die Richtigkeit der Ereignisse bestätigten, dass es mehr gab, als es sich unsere Wissenschaft vorstellen wollte.

Der König blickte mich zunächst lange schweigend an. Dann begann er, über die augenblickliche politische Lage wie auch über die alltäglichen Probleme, die es für ihn gab, zu sprechen. Er wollte offenbar wissen, welche politische Meinung ich hatte. Ich wusste kaum mehr, als das was die Medien und die Meinungsmacher im Internet verbreiteten. Dennoch sagte ich ihm, dass ich all diese Berichte mit Zurückhaltung und großer Vorsicht las, bedacht darauf, Unterschiede zu erkennen und die eventuell hinter den Meldungen vorhandene Wahrheit zu finden. Der König interviewte mich, offenbar wollte er wissen, wie ich recherchierte, wie ich von Information zu Information weiter ging und was ich behielt oder verwarf.

Er interviewte mich länger als eine Stunde, wir tranken Kaffee und aßen einige der Brötchen, die auf dem kleinen Tisch lagen. Im Lauf dieser Stunde hatte sich unser Stimmung erhitzt und wir debattierten angeregt über einiger der aktuellen Meldungen. Ich bekräftigte, dass ich viele Dinge, die der König in sozialer Hinsicht befohlen hatte, für richtig und wichtig hielt. Aber in einigen Dingen – vor allem seine außenpolitische Haltung gegenüber den anderen Staaten rings um uns – sagte ich ihm mit vorsichtiger Offenheit, dass ich sie nicht allesamt billigte. Es entstand eine beklemmende Pause.

Der König beugte sich vor, blickte mir direkt in die Augen und fragte, ob ich mir vorstellen könne, in seinen Beraterstab aufgenommen zu werden. Ich zuckte zurück, denn darauf war ich überhaupt nicht gefasst. Er richtete sich auf und sagte, ich könnte es mir gerne überlegen. Aber, sagte er, es wäre ein Vollzeitjob, und das einzige, was er verlangte, wäre absolute Ehrlichkeit. Er bräuchte keine Ja–Sager um sich, sondern Berater, denen er vertrauen konnte, die ihm auch widersprächen, wenn es notwendig sei.

Wir blickten uns schweigend an, ich überlegte fieberhaft, welche Vor– und Nachteile mir diese Ernennung bringen könnte. Dann blickte ich ihn direkt an und sagte: "Es wäre mir eine große Ehre, König Karl!" Ich musste schlucken, denn ich war selbst von meiner eigenen Entschlossenheit überrascht.

Der König drückte eine kleine verborgene Taste auf der Unterseite des Tisches und sagte: "Bringen Sie das Dokument!" Dann lehnte er sich entspannt zurück und schmunzelte: "Ich hoffe, ich habe Sie damit nicht überrumpelt!" Auch ich entspannte mich langsam, dann kam der junge Mann herein und brachte ein Blatt Papier. Der König nahm es, las es halbleise vor und setzte dann schwungvoll seine Unterschrift darunter. Dann reichte er mir den Federhalter und deutete auf die linke Seite. Ich unterschrieb, wild entschlossen, als ob es ein Todesurteil wäre. Der König reichte das Papier dem jungen Mann und befahl, die Ernennungurkunde zu kopieren und zu archivieren. Dann solle der Beraterstab und die wichtigsten Leute bei Hofe informiert werden.

Wir unterhielten uns noch fast eine weitere Stunde, während der König mir detailliert erklärte, was ich zu tun hätte, welche Befugnisse ich hatte und was er von mir erwartete. Er betätigte das Com und zeigte mir ein Bild der jetzigen Berater. Es waren allesamt Männer in meinem Alter, alle vier waren in einen schwarzen Umhang gekleidet und blickten sehr ernst in die Kamera. "Bis auf den ernsten Blick kann ich all das" sagte ich lächelnd. Auch der König musste schmunzeln.

"Da ist Meister Edelmann," sagte der König, "neben ihm Meister Gregor, Meister Reichenhall und Meister Berkel." Nach einer kurzen Pause meinte er, nun käme als fünfter Meister Puchmann hinzu. Dann runzelte er die Stirn und sagte: "Meister Puchmann, das klingt irgendwie nicht besonders." Nun setzte er zu einer langen Rede an, erklärte mir, wie sehr er König Arthur und dessen Ritter bewundere. Diesen hatte Arthur neue Namen gegeben. Galahad, Lanzelot oder Parsifal –– er hatte mit seinen Beratern gesprochen, aber die wollten ihre eigenen Namen behalten, bis auf Edelmann, der bis dahin Nawratil hieß, und Gregor, der seinen Namen niemandem verriet. Nun sah er mich gespannt an.

Ich zuckte die Schultern gleichgültig und meinte, ob Puchmann oder nicht, es wäre mir gleichgültig, es sei mir nicht wirklich wichtig. Mit beinahe kindlichem Eifer begann er sofort, nach Namen zu suchen. Odin oder Thor, Parsifal oder Merlin, doch bei jedem schüttelte ich den Kopf und sagte schlussendlich: "Einen Popanz müsse man nicht aus mir machen!" Er verstummte und dachte angestrengt nach. Dann hob er den Kopf und sagte: "Candor!" Ich dachte nach, denn Meister Candor, das klang gar nicht schlecht.

Der König entschied: "Ja, Meister Candor, das ist gut!"

Er verabschiedete mich bald, und ich eilte nach Hause – so wurde aus Leo Puchmann Meister Candor.