Königsmord

Königsmord

Während der Meister die breite Marmorstiege des Palais Harrach hinunter hastete, zog er den weiten, flatternden schwarzen Umhang um seine Schultern zurecht und ging die Ereignisse der letzten Minuten nochmals in Gedanken durch: das leise, unangenehme Fiepen des Coms hatte ihn geweckt, sein erster Blick galt der Zeitanzeige. Es war halb vier Uhr morgens. Wer...? Er deutete mit dem Finger auf den Com–Stab, es zeigte "Kanzlei, König" an. Es war sehr, sehr ungewöhnlich, zumal der König noch niemals nachts nach ihm gefragt hatte.

Er riß sich zusammen und meldete sich knapp: "Candor, bitte, wer spricht?"

"Die Kanzlei des Königs", zirpte eine leise weibliche Stimme aus den Lautsprechern. "Wenn Sie bitte umgehend zu uns kommen möchten, jetzt gleich, sofort..."

Er unterbrach sie und fragte: "Wer sind Sie, und worum geht es?"

Ein deutliches, langes Zögern. Dann sagte sie: "Königliche Kanzlei, Assistentin Firnbach." Wieder Stille, wieder ein Zögern. "Es geht um den König, die Königin bittet Sie dringend zu sich. – Mehr kann ich nicht sagen."

Er berührte Roxannes Arm, die augenblicklich wach wurde und ihn fragend ansah. "Ich komme gleich, Frau Firnbach. Ich bin in zwei Minuten unterwegs und denke, daß ich in fünf bis sechs Minuten im Leopoldinischen bin." Mit einer Handbewegung beendete er das Gespräch. Während er sich schnell anzog, blickte er zu Roxanne und sah sie nicken. Er griff nach seinem schwarzen Umhang, nahm den langen Stab aus knorrigem Eichenholz in die Hand und ging leise aus dem Schlafzimmer.

Am Fuß der Treppe angekommen, nahm er den Hinterausgang und hastete über die Herrengasse und dem Minoritenplatz zur Hofburg. Die Wachen am Eingang waren verstärkt worden, sie ließen ihn sofort passieren, da ihn das Identifikationsgerät erkannt hatte. Er ging durch die lange Halle zum zentralen Korridor, an dessen Ende die Kanzlei war. Ohne zu Klopfen öffnete er die Tür und trat ein. An einem Schreibtisch saß eine Frau mittleren Alters, die ihn offenbar sofort erkannt hatte. "Guten Morgen, Meister Candor" sagte sie, dann überlegte sie, ob das die richtige Anrede war. "Bitte folgen Sie mir," sagte sie und öffnete eine kleine Tapetentür hinter dem Schreibtisch. Er folgte ihr und befand sich in dem Vorzimmer, der zur königlichen Wohnung führte. Sie deutete auf die Tür und sagte: "Bitte treten Sie ein!"

Er öffnete die Tür, trat ein und sah sich um. Es waren mehrere Personen anwesend, die meisten kannte er. In der Mitte stand die Königin und drehte sich langsam um. Er sah in ihr verweintes Gesicht und wusste sofort, dass hier etwas Schreckliches passiert sein musste. Die Königin betupfte ihr Gesicht mit einem Spitzentaschentuch, bevor sie einen Schritt auf ihn zuging und leise murmelte: "Er liegt im Sterben, Meister, im Sterben!" Er fühlte ihren Blick auf sich ruhen, sah in ihre Augen und verspürte sofort ein tiefes, schmerzliches Unbehagen. Er trat noch einen Schritt vor, und sagte ebenso leise: "Wo ist er jetzt?" Sie wandte sich wortlos um und betrat vor ihm das Schlafzimmer.

König Karl lag im breiten Ehebett, halbsitzend ruhte sein Kopf auf mehreren Kopfkissen. Seine eisgrauen Haare umrahmten das kantige, bärtige Antlitz. Sein Gesicht war kreidebleich, der Schweiß rann ihm über die Stirn und die Wangen, und seine bleichen Finger tasteten unstet über das Bettlaken. Offenbar versuchte er zu sprechen, aber es kam kein Wort über seine Lippen, nur sinnloses, leises Gestammel. Der Meister trat schnell an das Bett und ergriff die Hand des Königs. Sie war eiskalt. König Karl hielt die Augen fest geschlossen und versuchte krampfhaft, sie zu öffnen, was ihm aber nicht gelang. Der Meister stand minutenlang neben dem Sterbenden, sah ihm forschend ins Gesicht und trat dann zurück.

"Was sagt der Arzt?" fragte er die Königin. Sie antwortete ihm sofort: "Der Arzt hat ihm vor 20 Minuten Blut abgenommen und ist damit ins Labor geeilt. Er hat sich noch nicht wieder gemeldet." Die Königin sah verzweifelt in das Gesicht Karls und murmelte: "Er muss vergiftet worden sein, beim Abendessen..." Ihre Stimme versagte. Minutenlang herrschte betretenes Schweigen.

In diesem Schweigen ertönte plötzlich ein leises Zirpen, die Königin machte eine Handbewegung und nahm das Gespräch an: "Dr. Ritzler, was gibt es neues?" die Umstehenden konnten die Antwort des Arztes nicht verstehen, die Königin lauschte aufgeregt und mit einer Handbewegung brach sie das Gespräch ab. Sie wandte sich um und sagte: "Es ist definitiv ein Gift, der Doktor fährt jetzt sofort in die Universität und wird versuchen, weitere Tests vorzunehmen, um die Art des Giftes festzustellen." Sie schnappte tief nach Luft, dann murmelte sie: "Ich kann es nicht glauben, wer kann ihn vergiften wollen?"

Nun traten der Butler und der persönliche Assistent des Königs wieder an das Bett und kümmerten sich darum, dass der König bequem lag, richteten erneut die Kissen, wischten mit Tüchern über sein Gesicht und fächelten ihm Luft zu. Der Meister atmete tief durch und versuchte, seine Gefühle vor den anderen zu verbergen, denn jetzt war es notwendig, daß er sich im Griff hatte und sein Denken klar blieb. Er trat mehrere Schritte zurück, beobachtete die Anwesenden mit tiefem Interesse. Er versuchte, sie genau zu beobachten und auch herauszuspüren, welche Emotionen sie hatten, aber er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Königin war sichtlich und spürbar erschüttert, der Butler wie auch der persönliche Assistent waren in heillosen Aufruhr. Auch der Baron von Stetten war in tiefer Trauer, aber es war auch Zorn und Wut in ihm zu erkennen. Die beiden Mägde, die etwas weiter hinten standen, waren ebenfalls erschüttert, die eine flennte leise vor sich hin, die andere presste ihre Lippen fest zusammen. Der Meister betrachtete sie genauer und dachte, sie könnte in dem König wohl mehr als nur ihren Herrn gesehen haben. Je länger er sie betrachtete und in sie hineinlauschte, desto sicherer war er sich, dass sie sein Bett mit ihm geteilt hatte. Vielleicht war sie schon 20 oder jünger, dachte er, ganz nach dem Geschmack des Königs, wie er wusste. Aber so sehr er sich auf sie und ihre Emotionen konzentrierte, eine Giftmörderin schien sie ihm nicht zu sein.

Nach etwa 20 Minuten zirpte das Telefon erneut, die Königin unterhielt sich kurz mit Dr. Ritzler und wandte sich zu den Umstehenden. "Es ist ein Schlangengift," sagte sie, "der Doktor meint, eine afrikanische Mamba. Ein Gegengift ist derzeit nicht verfügbar, in Spanien ist das nächst Verfügbare. Er hat schon mit unserer diplomatischen Vertretung Kontakt aufgenommen und veranlasst, dass das Gegengift sofort mit einer Privatmaschine zu uns geflogen wird. Sie meinten, es sollte in zweieinhalb Stunden bei uns sein." Sie presste ihre Lippen fest aufeinander, dann wandte sie sich ab, und man hörte sie in ihr Taschentuch weinen.

Leise entfernte sich der Meister von den anderen und trat ins Vorzimmer, suchte das Fräulein Firnbach und ging mit ihr zu Ihrem Schreibtisch. Er teilte ihr kurz den Stand der Dinge mit und befahl, dass sie ihm eine genaue und vollständige Liste der Gäste des Abendessens erstellen möge. Sie diktierte sofort die entsprechende Befehle in ihr Com und ließ es ausdrucken. Der Meister zog einen Stuhl heran, setzte sich und las die Liste sorgfältig durch. Er fand aber keine Unstimmigkeiten, es war offenbar ein ganz gewöhnliches Abendessen im familiären Rahmen. Neben dem König und der Königin war nur Prinz Ludwig anwesend, bedient wurden sie vom Butler und den zwei Mägden. Der Koch war sicher schon mehrere Jahrzehnte im Dienst Karls, seine beiden Küchengehilfen schienen unauffällig zu sein. "Wo war der persönliche Assistent?" fragte er Fräulein Firnbach, die kurz in ihr Com sprach und dann antwortete, dieser sei laut Kalender bereits vor dem Abendessen in sein Quartier gegangen, laut Anwesenheitsprotokoll genau um 19:37 Uhr. Um 19:55 habe er sein Quartier wieder verlassen und war einige Minuten später beim Haupttor hinausgegangen. Er ließ das Blatt sinken und schloss die Augen, um nachzudenken.

Er berührte kurz sein Com, das an seinem Unterarm befestigt war, und rief den Burgvogt an. Nach einer kurzen Begrüßung forderte er diesen auf, alles, was mit dem Abendessen zusammenhing, sicherzustellen. Die Küche und der Weinkeller mussten sofort abgesperrt und gesichert werden, ebenso musste das benutzte Geschirr sichergestellt werden. Der Burgvogt unterbrach ihn und sagte, das Geschirr sei sicher schon gereinigt und wieder eingeräumt worden. Trotzdem wolle er sich sofort an die Arbeit machen. Er beendete das Gespräch und schloss die Augen, versuchte sich vorzustellen, wie der Anschlag abgelaufen sein konnte. Er nahm an, dass das Gift flüssig wäre, daher war es vermutlich einem der Getränke beigemischt worden.

Plötzlich ging die Tür auf, und Baron von Stetten stürmte in die Kanzlei. "Prinz Ludwig ist ebenfalls erkrankt!" rief er und zog den Meister an seinem Umhang hoch. "Candor, kommen Sie mit!" rief er und stürmte voraus. Meister Candor folgte ihm in schnellen Schritten, eine Treppe höher betraten sie das Schlafzimmer des Prinzen. Auch dieser lag schweißbedeckt im Bett, eine Magd war über den 14–jährigen gebeugt und strich ihm beruhigend über die schweißnasse Stirn. Der Meister trat hinzu und fühlte kurz den Puls des Knaben, berührte ebenfalls die Stirn und sah ihn genau an. Dann wandte er sich um und ging wieder hinunter, betrat das Schlafzimmer des Königs und wandte sich an die Königin: "Der Prinz ist auch vergiftet worden, vielleicht sollte der Doktor nach ihm sehen!" Nach einem Schmerzensschrei schluchzte die Königin auf und rief sofort den Doktor, hieß ihn rasch in die Burg zu kommen und den Prinzen untersuchen. Ermattet ließ sie sich auf das Fußende ihres Ehebettes sinken. "Oh mein Gott, oh mein Gott!" war das Einzige, was sie immer wieder vor sich hinmurmelte.

Baron von Stetten wartete oben beim Prinzen auf den Doktor, der Meister stand unerschütterlich neben der Königin und sah dem Sterben des Königs zu. Nach einigen Minuten ergriff er die Hand Karls, versuchte den Puls zu ertasten und richtete sich dann auf. "König Karl ist tot," sagte er leise und schloss mit einer Hand die Augenlider seines Königs. Er beugte sich zu der Königin hinunter und umarmte sie wortlos. Sie saß reglos und wie gelähmt da, starrte auf das Gesicht Karls und schüttelte immer wieder langsam den Kopf. Die Minuten verrannen wie Sand in einer Sanduhr.

Der Meister wandte sich um und ging mit hängendem Kopf langsam die Stiege hinauf zum Schlafzimmer des Prinzen. Der Doktor war über den Prinzen gebeugt und untersuchte ihn ganz genau. Der Meister sah mit fragendem Blick zu Baron von Stetten und dieser flüsterte ihm leise zu: "Die Maschine ist schon in der Luft, aber es bleiben noch zwei Stunden, bis sie landen." Der Meister sagte leise, aber für den Doktor und den Baron gut hörbar: "Der König ist tot." Die drei Männer und die Magd sahen sich bestürzt und traurig an. Dann sagte der Doktor: "Es ist richtig, der Prinz ist ebenfalls vergiftet worden – vermutlich mit demselben Gift. Hoffentlich kommt die Maschine aus Madrid noch rechtzeitig an!" Der Meister, der besorgte Doktor und der treue Baron verharrten schweigend, die Magd jedoch unterbrach die Stille und sagte: "Ich habe auf dem Nachtkästchen des Prinzen einen Becher gefunden, den muss der Prinz nach dem Abendessen mit hinaufgenommen haben." Sofort fragte der Meister nach dem Becher. Die Magd hatte ihn im Waschbecken ausgeleert und ins Vorzimmer gestellt. Sie trat hinaus und kam anschließend mit dem Becher in der Hand zurück. Der Doktor nahm ihn vorsichtig in die Hand, umwickelte es mit einem Stück Stoff und stopfte ihn in seine Arzttasche. "Wird prompt untersucht," sagte er in seiner kurzen, knappen Art.

Wie es der Baron angeordnet hatte, wurde der König vom Butler und dem persönlichen Assistenten gewaschen und neu eingekleidet auf das frisch bezogene Bett gelegt. Die Königin wurde in ihr Quartier begleitet, wo sie sich ein wenig hinlegen und beruhigen konnte. Der Meister rief Fräulein Firnbach an, damit sie ein knappes Statement an die wichtigsten Persönlichkeiten herausgab und ein zweites, welches einige von ihnen für den nächsten Morgen in die Burg befahl.

Während sie warteten, rief Candor noch einmal bei Fräulein Firnbach an und bat sie, das Anwesenheitsprotokoll oder das Bewegungsprotokoll des vergangenen Abends zwischen 16 und 20 Uhr auszudrucken. Er wusste, dass jede Person zu jeder Zeit im Burggelände beobachtet wurde und die Bewegungen dieser Person genau aufgezeichnet wurden. Er stand geduldig neben Dr. Ritzler, der immer wieder auf seine Armbanduhr sah und den Puls des Knaben fühlte. "Er fiebert hoch" sagte er, "wir wollen hoffen, wir wollen hoffen!" Dann blickte er wieder ungeduldig auf seine Uhr. Baron von Stetten telefonierte immer noch mit dem Piloten, man hörte, wie er wiederholte, dass sie gerade über der Schweiz waren und es noch eine dreiviertel Stunde oder eine ganze Stunde dauern würde, bis sie landen konnten.

Prinz Ludwig war sehr still geworden, seine Augen blickten von einem zum anderen und wieder in weite Ferne. Der Meister beobachtete ihn aufmerksam und voller Trauer. Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, denn dass der Knabe sterben musste, war ihm klar bewusst. Die Minuten verrannen im Nu, der Doktor blickte immer wieder auf seine Armbanduhr und konnte nur hilflos zusehen, wie der Knabe langsam verfiel. "Noch 15 Minuten," sagte der Arzt, " sie müssten in 15 minuten landen." Er hielt das Armgelenk des Knaben und sah ihm in die Augen.

Baron von Stetten, der immer noch mit dem Piloten telefonierte, nickte erfreut und sagte, "sie sind im Landeanflug!" Nach einer Weile blickte der Arzt auf und sagte tonlos," Prinz Ludwig ist tot!" er senkte den Kopf, damit man nicht sehe, dass er weinte. Baron von Stetten schlug mit seiner flachen Hand auf seinen Oberschenkel, ballte die Faust und schlug diese in seine andere Hand, immer wieder. Die drei Männer standen lange am Totenbett, legten abwechselnd einander die Hand auf die Schulter und schwiegen.

Baron von Stetten raffte sich als erster auf, rief die Magd mit Namen: "Dina," sagte er, "wasche den Prinzen, kleide ihn sauber an und richte ihm das Bett !" Während die Magd hinausging, um das Erforderliche zu holen, gingen die drei Männer langsam hinaus. Der Baron schloss leise die Tür. Sie gingen die Treppe hinab, betraten die königlichen Wohnräume und klopften an die Tür zum Quartier der Königin. Eine Magd öffnete. Sie traten ein.

Baron von Stetten räusperte sich und sagte leise: "Der Junge ist gerade gestorben. Unsere aufrichtige Anteilnahme.." Seine Stimme versagte, er wandte sich ab und trat zurück. Nacheinander gaben der Doktor und der Meister der entsetzt blickenden Königin die Hand. Sie sackte in sich zusammen, schlug beide Hände vor das Gesicht und heulte. "Mein Gott, mein Gott! Das kann so nicht sein!" wiederholte sie immer wieder und schluchzte. Die drei Männer standen traurig und verzweifelt vor ihr, sahen ohnmächtig der verzweifelt Weinenden zu und schwiegen. Nach einigen Minuten, die ihnen wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, drehte sich der Doktor um und öffnete die Tür, um zu gehen und der Baron folgte ihm. Als Meister Candor ebenfalls gehen wollte, blickte die Königin kurz auf und sagte leise: "Bitte bleiben Sie!"

Der Meister schloss die Tür hinter dem Baron und wandte sich der Königin zu. Sie beruhigte sich offenbar und tupfte die Tränen mit einem Taschentuch ab. Dann blickte sie entschlossen zu ihm auf und herrschte ihn an: "Wer immer dafür verantwortlich ist, finden Sie ihn! Bringen Sie ihn mir gefesselt, auf Knien, damit ich ihm ins Gesicht sehen kann, bevor ich ihn zerfetze!".

Der Meister war bei ihrem heftigen Ausbruch einen Schritt zurückgetreten. Er kannte die Königin ziemlich gut, aber einen solch wilden Ausbruch hatte er nicht erwartet. Gedankenfetzen und kleine Visionen sah er: sie war ein ausnehmend hübsches Mädchen um die 20 gewesen, wild forderte ihre Jugend Lust und Parties. Wild und sexy umgarnte sie den alten Herrn, und als sie den König für sich gewann, wurde sie bald Königin neben dem mindestens 40 Jahre Älteren. König Karl war hocherfreut, als Prinz Ludwig geboren wurde, und ernannte ihn schon bei seiner Geburt zum Kronprinzen. Die Königin wie auch der König hatten ihre kleinen Eskapaden, aber im Großen und Ganzen lebten sie harmonisch miteinander und hielten das Reich zusammen. Ludwig war der Garant für die Zukunft.

Der Meister sah der Königin in die Augen, dann nickte er und versprach: "Ich werde mein bestes geben, liebe Elisabeth!" Nur sehr selten sprach er die Königin mit Ihrem Namen an. Er reichte ihr die Hand, sie tauschten einen festen Händedruck, dann nickte er und ging hinaus.

In der Kanzlei von Frau Firnbach erwartete ihn schon der Baron. "Und, was hat sie gesagt?" fragte dieser ungeduldig. "Sie hat mich beauftragt, die Schuldigen umgehend zu finden!" antwortete der Meister und wandte sich zu Fräulein Firnbach: "Bitte richten Sie mir das kleine Zimmer nebenan als Provisorium ein, ich benötige einen Tisch, 3 Stühle und eine Com–Einrichtung." Fräulein Firnbach nickte.

Der Meister und der Baron verbrachten die nächste Stunde damit, die erforderlichen Statements an die wichtigsten Persönlichkeiten herauszugeben so wie die Medien über den Stand der Dinge mit aller gebotenen Vorsicht zu informieren. Er unterhielt sich mit dem Baron über die Frage, wie das Reich weiter regiert werden könne und wo man einen Nachfolger für die Verstorbenen fände. Der Baron führte einige Gespräche mit dem Archiv sowie dem Geheimdienst und sagte dann lapidar: "Es gibt nur noch einen Nachkommen Karls, den Prinzen Erich aus einer früheren Ehe, der zurzeit in London lebt." der Baron ließ keinen Zweifel daran, dass er mit der Lebensführung dieses Prinzen gar nicht zufrieden war, denn dieser führte ein ziemlich sorgloses Partyleben in London. Nach einer kurzen Besprechung mit dem Meister veranlasste er, dass die Kanzlei eine Expressnachricht nach London schickte.

Fräulein Firnbach sagte, das Zimmer sei bereit. Meister Candor stand auf, ging in das Zimmer und sagte zu Fräulein Firnbach, sie solle die Magd Dina rufen. Er setzte sich hinter den Schreibtisch, richtete Papier und Bleistift und drückte die Com–Einrichtung. Das Gerät stellte er auf Aufnahme. Der Baron war ebenfalls hereingekommen, schnappte sich einen Stuhl und setzte sich etwas abseits. Sie warteten.

Die Magd trat ein, ihr Gesicht drückte Trauer und tiefen Schmerz aus. Sie war eine nicht besonders schöne, aber doch sehr hübsche junge Frau Ende 20, schätzte er. Sie hatte sich offenbar umgezogen und hatte ein hübsches Kleid an. Ihre langen, brünetten Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden, was der Mode dieser Zeit entsprach. Der Meister bat sie, sich hinzusetzen. Dann blickte er sie sehr lange schweigend an. Währenddessen versuchte er, so tief es ging, in ihre Gedanken hineinzuhören, aber die Trauer und der Schmerz überdeckten alles.

"Was hatte dieser Weinbecher, von dem wir wissen, dass er vergifteten Wein enthalten hatte, beim Kronprinzen zu suchen?" fragte der Meister überraschend in die Stille hinein. Zu seiner Freude sah er plötzlich vage Bilder, wie der Junge immer wieder Wein stibitzte. Und prompt sagte die Magd, in Tränen ausbrechend, der junge Prinz habe immer wieder Wein mitgenommen, erst wohl aus Neugier, aber vielleicht gefiel ihm das leicht berauschende Gefühl. Ja, sagte sie unsicher und seufzte tief. In diesem Augenblick sah der Meister ein Bild, wie Dina und Ludwig nackt auf dem Bett um ein Kissen rangen und dabei glücklich lachten.

"Wie lange geht das schon, zwischen dir und Ludwig?" fragte er streng. Dina blickte erschreckt auf, dann wandte sie sich zum Baron um und blickte wieder den Meister an. Er wiederholte streng: "Wie lange schläfst du schon mit dem Jungen?" Dina senkte den Kopf und schwieg. Dann flüsterte sie leise: "Erst ein paar Wochen, Meister Candor." Der Meister spürte ganz deutlich, dass der Baron sehr schuldbewusst dreinblickte, doch das wollte er sich für später aufheben. "Und du hast ihn wohl auf diese Weise an Dich binden wollen?" sagte er streng. Dina blickte ihm direkt in die Augen, dann sagte sie: "Nein, mein Herr, das war nicht meine Absicht, sondern." Sie brach ab, dann blickte sie ihn beinahe trotzig an: "Ich glaube, es hat ihm Freude bereitet, er war glücklich damit." Nach einer kleinen Pause ergänzte sie: "Er war so neugierig, er war so jung." Dann brach ihre Stimme ab. Sie schluchzte leise, und die beiden Männer schwiegen.

Der Meister unterbrach die Stille: "Du glaubst also, dass der Prinz den Wein vom Abendessen mit hinaufgenommen hat?" Unverzüglich sagte Dina: "Ja!" und blickte ihm fest in die Augen. "Er hat jeden Abend nach dem Abendessen den Becher seines Vaters mit Wein befüllt und mit hinaufgenommen, und wenn ich dann später zu ihm ging, um...." sie unterbrach sich und fügte hinzu: "Wenn ich zu ihm kam, hatte er den Becher meist schon geleert." Der Meister sah sie noch lange forschend an, dann nickte er und ließ sie gehen.

"Und nun, mein lieber Baron, heraus mit der Sprache!" Der Baron, ein kleiner, untersetzter Mann mit Wohlstandsbäuchlein, kratzte sich am Kopf, bevor er trotzig sagte: "Mensch, Candor, so schlimm ist das ja wohl nicht. Der Junge wusste nicht so recht, wie er sich der holden Weiblichkeit annähern könnte, er hatte ja keine Spielkameradinnen. Er hat in manchen Gesprächen seine Gefühle durchklingen lassen, und ich sagte ihm immer wieder: "Das kommt noch, mein Junge, das kommt noch!" Dann habe ich mit Dina gesprochen, von der ich wußte, daß sie häufig heftige Liebschaften hatte, von der ich aber auch wußte, daß sie eine grundanständige Frau war. Sie hat sich nicht lange geziert und versprochen, die Gefühle des Prinzen niemals zu verletzen. Und so kam es, und ich allein trage die Verantwortung!" Der Meister hatte, während der Baron berichtete, immer wieder genickt und sagte schlussendlich: "Das ist zwar nicht meine Welt, aber ich glaube Ihnen, dass Sie es nur gut meinten." Der Baron war sichtlich erleichtert, er blickte dem Meister fest in die Augen und sagte: "Candor, ich habe mit dem, was dem König und dem Prinzen geschah, nichts zu tun!" Da Meister sah ihn lange an, dann nickte er und sagte: "Mein lieber Baron, ich glaube Ihnen!" Das klang endgültig, und das war es auch. Die beiden Männer sprachen noch lange darüber, wie sie hinsichtlich des Prinzen Erich vorgehen konnten, und vor allem, wie sie die Statements gegenüber dem Reich und den Medien halten wollten. Der Meister, immerhin einer der engsten Berater des Königs, und der Baron, der erstens für die Erziehung von Prinz Ludwig und zweitens im Auftrag des Königs für die absolute Geheimhaltung der kleinen, heimlichen Affären der Königin verantwortlich war, verständigten sich über diese beiden wichtigen Ereignisse und waren grosso modo einer Meinung.

Der Meister war in die Küche im Erdgeschoss gegangen, setzte sich an den langen hölzernen Tisch und bekam ein gutes, herzhaftes Frühstück. Er aktivierte kurz sein Com und rief Roxane an. Er schilderte kurz die Ereignisse, dann sagte er, dass er am Vormittag in der Burg bleiben würde, denn die Granden des Reiches würden sicher einen publikumswirksamen Auftritt veranstalten, an dem er teilnehmen müsste. Roxane hatte still zugehört, dann sagte sie leise, das sie und Marco daheim gut aufgehoben wären, er solle sich ruhig Zeit lassen und sich keine Sorgen machen.

Kaum hat er aufgelegt, rief schon der Baron an, um ihm mitzuteilen, dass die Medienveranstaltung in 15 Minuten im großen Saal beginnen werde und er rechtzeitig dazustoßen müsse. Der Meister ging in den Waschraum, wusch sein Gesicht und kämmte sich die langen weißen Haare. Im Spiegel überprüfte er noch einmal sein Aussehen, dann ging er in den ersten Stock in den großen Saal. So, wie der gesamte leopoldinische Trakt in der Burg in einfachem Weiß gehalten war, waren die Wände mit roten Stofftapeten überzogen und die mit Gold versetzten Rahmen der riesigen Spiegel verliehen dem Saal eine würdige Atmosphäre, in der schon in der Vergangenheit Könige, Kanzler und Bundespräsidenten ihre Auftritte hatten. Er sah sich kurz in dem überfüllten Saal um und entdeckte die anderen Meister, die an der linksseitigen Wand auf den Bänken Platz genommen hatten. Er nickte ihnen zu, setzte sich zu ihnen und legte seinen Stab auf den Boden. Alle großen Persönlichkeiten, Vertreter der Stände und der Regierung, aber auch Medienleute und eine große Anzahl Fotografen und Kameraleute waren anwesend.

Der Sprecher der Königskanzlei trat an das Mikrofon, und es wurde still im Saal. Er las aus einem Dokument und berichtete, dass König Karl und Prinz Ludwig einem hinterhältigen Anschlag zum Opfer gefallen waren. Obwohl alle bereits informiert waren, ging ein dumpfes Raunen durch den Saal. Dann trat der Sprecher zurück und überließ das Mikrofon dem nächsten Redner, dem Regierungspräsidenten. Dieser, ein weißhaariger, würdiger alter Mann, zählte die Verdienste des Königs und die Erfolge des Reiches auf. Dann folgten weitere Reden, Ansprachen und Nachrufe, eine verlogener als die andere. Die Veranstaltung zog sich in die Länge, und der Meister hatte sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen und ließ seinen Gedanken freien Lauf.

Er wollte es nur ungern zugeben, aber der Mörder bzw der Auftraggeber des Attentats war sicher im Saal anwesend. Unter herabgelassenen Augenlidern betrachtete er all die Menschen, die den Reden zuhörten. Er kannte sie alle, zumindest dem Namen nach, und versuchte sich bei jedem vorzustellen, dass diese Person den Auftrag zu dem Anschlag gegeben haben könnte. Aber sein Instinkt versagte völlig, keiner der Anwesenden erschien ihm auch nur im entferntesten verdächtig. Er neigte sich zu Meister Edelmann, der neben ihm saß und flüsterte: "Wer von diesen wäre überhaupt in der Lage, solch ein Attentat anzuordnen?"

Meister Edelmann, der in etwa im gleichen Alter war wie er selbst, schüttelte nur den ergrauten Kopf und flüsterte zurück: "Wir müssen jeden von ihnen untersuchen, so eine grauenhafte Tat kann nicht ungestraft bleiben!" Er machte eine längere Pause, dann fügte er hinzu: "Wir müssen herausfinden, welches Interesse dahinter stand, dann haben wir auch den oder die Täter." Meister Candor raunte: "Die Königinwitwe hat mich schon damit beauftragt". Edelmann sah ihn kurz an, dann nickte er: "Sie hat die richtige Wahl getroffen!" Die beiden verstummten und überließen sich wieder dem Zuhören.

Die Gedanken des Meisters schweiften ab. Es war noch vor der Zeit, bevor er wiedererweckt wurde, dass das vereinte Europa praktisch wieder in Einzelstaaten auseinanderfiel. Das übriggebliebene Konglomerat Vereintes Europa wurde ein hohler, leerer Papiertiger. Die Einzelstaaten blieben Republiken wie Deutschland oder Frankreich, aber in anderen rissen Autokraten die Führung an sich, so auch in Österreich. Der letzte Bundespräsident ernannte sich in einer Nacht– und Nebelaktion zum König. In seiner Fernsehansprache an die Nation sagte er, dass das Chaos nur dadurch beendet werden könne, dass jemand mit starker Hand die Republik wieder aufrichtete und die endlosen Querelen, politischen Intrigen und Ränkespiele parteipolitischer Gruppierungen, die das Land lähmten, beendete. So proklamierte er die Republik Österreich zum Königreich Österreich und sich selbst zum König Franz.

Es war ein Aufatmen im ganzen Reich zu spüren, als König Franz begann, Ordnung zu schaffen. Zum Motto hatte er sich "Gerechtigkeit zuerst!" auf die Fahnen geschrieben, und er gab sich alle Mühe, dies auch in die Tat umzusetzen. Eine seiner klügsten Entscheidungen beispielsweise war, die 100 reichsten Menschen oder Unternehmen des Reiches einmal im Jahr im Thronsaal zu versammeln und es ihnen zur freien Entscheidung zu überlassen, zu welchem Teil sie mit ihrem Vermögen zur Gemeinschaft beitragen wollten. Natürlich wollte keiner, aber der König ließ ihnen keine Wahl. Diejenigen, die sich zunächst verweigerten, belegte er – voller Zorn und Abscheu – mit einer 30% prozentigen Steuer beziehungsweise ließ er 30% ihres Vermögens eintreiben. Ab dem zweiten Jahr gab es niemanden mehr, der nicht freiwillig einen Teil seines Vermögens an die Staatskasse ablieferte. Mit solchen Aktionen wurde König Franz sehr populär beim Volk, natürlich nicht bei den Granden.

König Franz beließ es dabei, dass der Regierungspräsident und die Minister sowie das Parlament mit gut 400 Abgeordneten das Reich führten, zunächst einmal. Doch im Hintergrund scharte er eine Handvoll kluge Köpfe um sich, die ihn und seine Ideen unterstützten, aber die auch bereit waren, ihm im Streitgespräch zu widersprechen, wo sie es für nötig hielten. Alle großen und wichtigen Entscheidungen wurden in diesem Rat der Meister, wie König Franz sie insgeheim nannte, getroffen. Alle außenpolitischen Entscheidungen fielen in diesem Gremium, Franz beobachtete mit großer großem Interesse, wie sich die Beziehungen zu den großen Staaten wie Deutschland, China, Russland und die Vereinigten Staaten entwickelten. Er scheute sich nicht, vor die Regierung zu treten und eine Anordnung zu verkünden. Die Debatten verliefen kurz, denn alle wussten, wenn der König eine Entscheidung gefällt hatte, dann war sie auszuführen. Franz war zutiefst davon überzeugt, das nur eine Verbindung zwischen einem mächtigen König und einem gewählten Parlament, dass das Volk vertrat, funktionieren konnte. Besser ein König, der dem Parlament zuhören konnte, als eine demokratische Regierung, die sich in ewigen, endlosen Debatten fruchtlos totlief. So regierte König Franz länger als 20 Jahre, bis nach seinem Tod sein Sohn Karl ihm auf dem Thron folgte.